Die Gauklerin
erwachen, ging sie auf das dunkle Grün zu, machte an einer Felsengruppe halt, in die Muscheln, Schnecken und Seesterne gehauen waren. Die Feuchtigkeit der Nacht war in den Furchen und Rinnen zu Eis gefroren, jetzt ließen die ersten Sonnenstrahlen des Tages die vereisten Stellen Saphiren und Diamanten gleich glitzern.
Agnes stand wie verzaubert, als sie plötzlich hinter sich ein Knacken hörte.
«Wer bist du denn?»
Agnes fuhr herum. Ein Mädchen stand vor ihr, in hellblauem Wollmantel, Ärmel und Kragen mit Pelz besetzt. Es mochte zehn, elf Jahre zählen. Das etwas großflächige Gesicht war nicht über die Maßen hübsch, doch der fein geschnittene Mund und die schmale Nase verliehen ihm etwas Zartes, Nachdenkliches. Die dunkelbraunen Augen unter der breiten Stirn betrachteten Agnes aufmerksam.
«Du musst Agnes aus Ravensburg sein.»
«Ja.» Agnes blickte das Kind erstaunt an. Der Schreck, der ihr in die Glieder gefahren war, ließ nach. «Und wer seid Ihr?»
«Weißt du das denn nicht? Ich bin Prinzessin Antonia.»
«Wie soll ich das denn wissen? Wir Mägde bekommen ja niemanden zu sehen in der Gesindeküche.» Sie biss sich auf die Lippen. Das war wahrscheinlich nicht die richtige Art, mit einer Prinzessin zu reden. Gleichzeitig glaubte sie sich zu erinnern, das Mädchen zwei- oder dreimal in der Hauptküche gesehen zu haben, wie sie mit den Köchen beim Morgenmahl saß.
«Mein Bruder, der Kronprinz, hat mir von dir erzählt. Du bist tatsächlich sehr schön.»
Jetzt spürte Agnes deutlich, dass sie rot wurde. Zugleich wurde ihr bewusst, wie schäbig sie mit ihrem geflickten Umhang in dieser Pracht rundum wirken musste.
«Wie gern hätte ich auch so kräftiges, dunkles Haar, solche Locken», fuhr die Prinzessin fort. «Dazu diese dunkelblauen Augen.»
Sie warf den Kopf in den Nacken und fragte mit der ganzen Strenge ihrer fürstlichen Autorität: «Was hast du hier zu schaffen?»
Agnes suchte fieberhaft nach einer Ausrede, doch es wollte ihr nichts einfallen. Also sagte sie die Wahrheit. «Ich wollte mir den Garten ansehen», murmelte sie mit gesenktem Blick.
«Du weißt doch, dass es der Dienerschaft verboten ist, ohne Erlaubnis auf dem Schlossgelände herumzuwandern.» Ein Funken Misstrauen glomm in den Augen der Prinzessin auf. «Oder bist du etwa auf Diebesgut aus, im Harnischhaus drüben oder im Neuen Lusthaus?»
«Um Gottes willen, nein!»
Sie schwiegen beide. Mit einem Mal wirkte die Prinzessin verlegen, fast schüchtern. «Isch scho recht», sagte sie und klang nun ein wenig wie eines der Küchenmädchen, «wie eine Diebin siehsch eigentlich net aus. Was hast du für Aufgaben im Schloss?»
«Ich spüle das dreckige Geschirr Euer Durchlauchtigsten Hochgeborenen Gnädigen Prinzessin.» Herr im Himmel, dachte Agnes zum zweiten Mal an diesem Morgen. Mit meinem Mundwerk bring ich mich noch in Teufels Küche. Dann musste sie plötzlich lachen.
«Euer fürstliche Gnaden mögen mir vielmals verzeihen – ich bin es nicht gewohnt, mit Prinzessinnen zu sprechen. Bitte glaubt mir: Ich wollte niemandem schaden noch stehlen, sondern nur ein einziges Mal die berühmte Pracht dieses Gartens mit eigenenAugen sehen. Und er ist noch herrlicher, als ich gedacht hatte», setzte sie leise hinzu.
Ein Anflug von einem Lächeln erschien auf dem ernsten Gesicht des Mädchens. «Solltest ihn mal im späten Frühjahr sehen. Dann leuchten die Rabatten in Gelb, Orange und Rot, grad als ob die Sonne selbst aus den Blumen scheint. Und dort hinten gibt es Beete, die nur in Blau und Weiß blühen, wie der Sommerhimmel, über den weiße Wolken ziehen.»
«Das muss wunderbar aussehen. In meines Vaters Haus in Ravensburg hatte ich auch einen Blumengarten. Der war natürlich schon etwas kleiner, aber ich hatte die Reseden und Nelken auch nach Farben gepflanzt, und an den Mauern rankten weiße und rote Kletterrosen. Vom Duft im Juni konnte einem schwindlig werden.»
Prinzessin Antonia nickte. «Blumen sind mit das Schönste in der Natur. Jetzt komm aber.»
Energisch nahm sie Agnes beim Arm, was beinahe etwas Komisches an sich hatte, da das Mädchen ihr nur bis zur Schulter reichte, und zerrte sie in Richtung Schlossbrücke.
«Was hat Euer Wohlgeboren mit mir vor?»
Die Prinzessin zog die schmale Nase kraus. «Ich bringe dich zu meiner Mutter. Ich muss melden, dass du in den Garten eingedrungen bist.»
9
Matthes saß in einem Nebenraum der Werkstatt und arbeitete verbissen am Radschloss seines Karabiners. Bis auf
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