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Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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mich noch immer liebst, komm morgen früh zur achten Stunde ans Frauentor. Nimm nur das Notwendigste mit dir, sodass wir gleich nach Stuttgart aufbrechen können.
    Dein Kaspar, der dich innig und über alles liebt.
    Ihre Finger verkrampften sich. Seit sie denken konnte, war sie nie weiter aus der Gegend herausgekommen als bis Buchhorn am Bodensee oder bis Waldsee im Norden. Wo lag Stuttgart überhaupt? Wie viele Tage würde die Reise dauern? Wo würden sie übernachten in diesen kalten Herbstnächten?
    Was sie am meisten verwirrte, war der plötzliche Schmerz, der in ihrem Inneren aufflammte – der Schmerz, dass sie mit dieser Flucht ihrer Mutter so unsägliches Leid zufügen würde. Dass sie mit Kaspar fortgehen würde, stand für sie dennoch außer Frage.
    Zugleich erkannte sie, dass sie all die Tage, all die Wochen darauf gehofft hatte, Marthe-Marie würde sie noch einmal auf ihre Liebe zu Kaspar ansprechen. Ihr war längst deutlich geworden, welche Sorgen ihre Eltern gequält haben mochten bei dem Gedanken, ihre Tochter würde mit einem Gaukler davonziehen. Es war ja nicht nur die Schande, die Ungeheuerlichkeit, die bürgerliche Ehre wegzuwerfen wie einen alten Lumpen. Ihre Eltern kannten die schrecklichen Gefahren und Nöte des Wanderlebens zur Genüge. Gleichwohl: Hätte ihre Mutter auch nur ein einziges Mal das Wort an sie gerichtet, so hätte Agnes ihr alle Zweifel an der tiefen und ehrlichen Verbundenheit zwischen ihr und Kaspar genommen. Hätte sie überzeugt, dass Kaspars einziges Ziel es war, sesshaft und ehrbar zu werden.
    Stattdessen hatte man sie behandelt wie ein kleines Kind, das sich verbotenerweise an Naschwerk vergriffen hatte. Oder, noch schlimmer, und sie wagte es kaum zu denken, wie eine leichtfertigeMetze, die nur ihr Vergnügen im Sinn gehabt hatte. Aber die anderen mochten denken, was sie wollten; niemals würde sie Kaspar gehen lassen und sich stattdessen in eine Ehe mit Ulrich fügen. Niemals. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, band sich die frisch gewaschene Schürze vor und ging nach unten.
    Im Treppenhaus traf sie auf Jakob.
    «Mein Gott, Agnes, was ist mit dir?» Fast erschrocken sah er sie an.
    «Nichts. Was sollte sein?»
    «Ich weiß nicht. Du wirkst so – so verzweifelt.»
    «Was für ein Firlefanz», fauchte sie. Dann nahm sie seine Hand, drückte den kleinen Bruder fest an sich und strich durch sein strohblondes Haar. Wieder musste sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen.
    «Ist es wegen diesem Kaspar?», flüsterte er.
    «Glaubst du auch, dass ich eine Dirne bin?», fragte sie mit erstickter Stimme zurück.
    «So was würde ich nie von dir denken.» Er machte sich los. «Bitte, Agnes, geh nicht fort.»
     
    Dichter Nebel stand in den Gassen, als Agnes mit ihrem Bündel unter dem Arm das kurze Wegstück zum Frauentor rannte, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Zu ihrer Erleichterung war der Wächter in ein Gespräch mit Passanten vertieft, sodass er nicht einmal bemerkte, wie sie das offene Tor passierte. Hinter dem aufgeschütteten Stadtgraben sah sie die schlanke Gestalt Kaspars stehen. Er hob den Arm zum Gruß, aber noch bevor sie ihn erreicht hatte, eilte er los, einen schmalen Pfad hügelaufwärts.
    «Kaspar, was soll das? So warte doch.» Endlich hatte sie ihn eingeholt. Warum nahm er sie nicht in die Arme?
    «Gleich, meine Liebe. Gleich sind wir da.»
    Unruhig blickte er sich um, dann zog er sie hinter sich her bis zu einem Buchengehölz. Das war nicht Kaspars Wagen, der dastand, das war ein zweirädriger Maultierkarren, notdürftig mit einer Plane überspannt.
    «Was soll das, Kaspar? Und was ist mit deiner Stirn? Du blutest ja.»
    Statt einer Antwort schob er sie hastig auf den Kutschbock, der kaum Platz bot für zwei. «Meine Prinzessin, meine Liebste. Fast hatte ich geglaubt, du würdest nicht die Courage aufbringen.»
    Vom Stadttor her war Pferdegetrappel zu hören, das rasch näher kam.
    «Schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren.»
    Der Nebel legte sich wie ein nasses Tuch auf Haut und Kleidung. Agnes hätte losheulen können vor Enttäuschung. Wo waren das Glücksgefühl und die Wiedersehensfreude, die sie so lange ersehnt hatte?
    «Warum dieser Karren?», fragte sie mit heiserer Stimme.
    «Du willst doch wohl nicht zu Fuß nach Stuttgart.» Kaspar lächelte breit und trieb das Maultier in Trab. «Den Wagen habe ich im Lager gelassen. Es soll schließlich niemand von unserer Reise erfahren.»
    Agnes sah ihn misstrauisch an. «Hattest du

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