Die Geächteten
flüsterte Hannah. »Spreiz deine Beine.«
Danach dösten sie ein wenig, die Gliedmaßen ineinander verschlungen. Als Hannah das zweite Mal
aufwachte, bemerkte sie, wie Simone sie verwirrt betrachtete. »Du steckst voller Überraschungen.«
Hannah schaute zur Seite, plötzlich fühlte sie sich verlegen. »Dasselbe gilt für dich.« Simones Lippen verzogen sich zu einem listigen, vertraulichen Lächeln. »Es war schön, non? «
»Ja«, sagte Hannah, doch Tatsache war, dass es vieles gewesen war, nicht nur schön. Es war erstaunlich gewesen, sowohl körperlich als auch emotional: intim, sehr erotisch, auf eine Weise heilsam, von der sie nicht geahnt hatte, dass sie dies brauchte. Nichts auf der Welt würde die schrecklichen Momente, die sie erlebt hatte, ungeschehen machen können, doch Simones Berührung und ihre eigene Reaktion darauf hatten die Schrecken zumindest gemildert, hatten deren Macht über sie geschwächt und die Erinnerungen daran in eine erträgliche Distanz gerückt. Zum ersten Mal, seit sie eine Rote geworden war, hatte sie sich wieder wie ein menschliches Wesen gefühlt.
»Wir können nicht länger bleiben«, sagte Simone. Hannah hörte das Bedauern in ihrer Stimme und spürte selbst einen Anflug davon, gepaart mit Erleichterung, Schuld und anderen Emotionen, die sie nicht bestimmen konnte. Schuldig fühlte sie sich vor allem wegen Kayla: weil sie selbst gerettet worden war und Kayla nicht, weil Hannah mit einer Frau intim gewesen war, die noch vor drei Tagen vorgehabt hatte, Kayla zu töten. Weil sie mit Simone geschlafen und nicht an Kayla gedacht hatte. Ich bin ein schrecklicher Mensch , dachte sie.
Simone rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich und spiegelte Hannahs eigene Gedanken wider. »Wir werden aufbrechen, sobald es dunkel ist«, sagte sie. »Ich habe etwas in Columbus zu erledigen.«
Hannah lächelte mit grimmiger Miene. »Ich schätze, Stanton muss sich nach allem, was geschehen ist, nicht durch die Hölle der Renovierung quälen.«
»Was meinst du damit?«
»Deshalb hat er uns und die anderen Frauen verkauft. Um die Sanierung seines Hauses zu bezahlen.«
» Deshalb hat er uns hintergangen? Für ein verdammtes Haus? « Simone schüttelte den Kopf. »Seine Mutter Claire war eine der Ersten, die sich uns anschloss. Dass ausgerechnet ihr Sohn so etwas tut, ist unvorstellbar.«
»Er hat von ihr erzählt. Ich hatte den Eindruck, er hat es ihr übelgenommen, dass sie euch an die erste Stelle in ihrem Leben gesetzt hat.«
»Sie war eine wahre Patriotin. Wenn sie noch leben würde, würde sie ihn persönlich umbringen.«
Stattdessen, das war Hannah klar, würde Simone ihn töten. Hannah stellte sich die Szene vor: Stanton, an einem seiner kostbaren Stühle festgebunden, während Simone ihm Fragen stellte. Sie würde ihn foltern, wie sie und Paul sicher gestern auch Hannahs Entführer gefoltert hatten, um alles aus ihnen herauszupressen, was diese wussten. In ihrem früheren Leben hätte Hannah sich darüber empört. Doch wenn sie heute an die Frauen dachte, die Stanton verkauft hatte, damit man sie missbraucht und danach tötet, wenn sie an Kayla dachte, wie sie mit Drogen vollgepumpt ihre Vergewaltiger darum bat, sie weiterzuvergewaltigen, fühlte Hannah sich nicht nur unverzagt, sie empfand dabei ein großes, primitives Vergnügen. Coles Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Einige Dinge verdienen es nicht, vergeben zu werden . Womöglich unterschieden sie und Cole sich nach alledem nicht mehr allzu sehr. Das war ein verstörender Gedanke.
Simone setzte sich auf, neigte sich nach unten, griff nach ihrer Hose, die auf dem Boden lag, und suchte in den Taschen nach ihrem Port. »Geh und dusch dich. Ich muss einige Anrufe machen.«
»O.k.« Als Hannah sich aufrichtete, knurrte ihr Magen. »Gibt es hier irgendwas zu essen? Ich sterbe vor Hunger.«
»Leider nicht. Wir halten an, wenn wir die Stadt verlassen haben, und besorgen uns etwas. Allerdings wird es wohl Fastfood sein. Wir haben neun Stunden Fahrt vor uns, und je eher ich dich bei George in Bowling Green abliefere, desto eher kann ich zurück und mit diesem chien sale von Stanton abrechnen.«
»Nein«, sagte Hannah, ohne nachzudenken, und hob die Hand, um ihre Ablehnung zu unterstreichen. »Das will ich nicht mehr.«
Simone zog die Brauen zusammen. »Er muss sterben, das musst du doch einsehen.«
»Ich meine, ich möchte nicht mehr der Gnade irgendwelcher Fremden
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