Die Geächteten
verlegen sein, chérie. Es dauert, bis man gelernt hat, wie ein erbarmungsloser Terrorist zu denken.«
Es dauerte einige Sekunden, bis die Bemerkung bei Hannah ankam. Sie ließ den Unterkiefer fallen und riss die Augen in gespielter Überraschung weit auf. »Das kann ich nicht glauben.«
»Was?«
»Simone, du hast gerade einen Witz gemacht.«
Simone lächelte ironisch. »Ben, es gibt für alles ein erstes Mal.« Sie beugte sich hinunter und gab Hannah einen langen Kuss. Hannah spürte, wie ihre Lippen kribbelten, als stünden sie unter Strom. »Ich komme in einer Stunde zurück«, sagte Simone. »Und dann …« Sie strich mit ihrem Daumen über Hannahs Unterlippe und entlockte ihr ein leises, unfreiwilliges Stöhnen.
Simone kicherte. »Warte auf mich. Ich werde schnell fahren.«
Nachdem sie gegangen war, warf Hannah sich wieder aufs Bett und starrte an die Decke wie zuvor Simone. Sie ließ die Ereignisse des Morgens – ungeheuerliche, greifbare, unbestreitbare – in ihrem Kopf Revue passieren. Sie war gerade mit einer anderen Frau intim geworden. War sie deshalb jetzt eine Lesbe oder eine Bisexuelle? Würde sie außer Simone auch andere Frauen anziehend finden, oder war das, was letzte Nacht passiert war, eine Ausnahme gewesen, ausgelöst durch ihre Entführung, die Fast-Vergewaltigung und ihre Rettung? Ihr fiel das Wort »Liebesakt« ein, doch Hannah schüttelte ablehnend den Kopf. Sie hatte Simone gern. Was sie miteinander geteilt hatten, war mehr als Sex gewesen. Allerdings hatte es zwischen ihnen nicht dieses prickelnde Liebesfieber gegeben, das Streben zweier Menschen nach der Vereinigung ihrer Seelen, so wie Hannah es mit Aidan erlebt hatte.
Und vielleicht wieder erleben würde . Ihr Gedanke von vorhin, zu ihm nach Washington zu gehen, beflügelte sie jetzt wieder. Sie hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wiederzusehen. Doch nun rückte die Möglichkeit in greifbare Nähe, nun, wo sie die unerwartete Chance bekam, ganz allein zu reisen. Sie musste es einfach versuchen, ihn zu treffen. Sie musste in seine Augen sehen, um herauszufinden, ob seine Gefühle für sie wirklich von tiefer Natur waren. Sie wollte ihn um Vergebung bitten. Ihn festhalten und von ihm gehalten werden, mit ihm um das weinen, was sie verloren hatten. Doch was sollte sie tun, wenn er ein Treffen mit ihr ablehnte? Mit Sicherheit wäre er nicht so grausam, selbst wenn er sie nicht mehr liebte. Zumindest der alte Aidan, so wie sie ihn in Erinnerung hatte, könnte ihr den Wunsch nicht abschlagen. Doch der, den sie bei Susan und Anthony im Video gesehen hatte …
Es gab nur einen einzigen Weg, um das herauszufinden.
Sie setzte sich hin und stellte das Video an. Ihr erster Gedanke war, ihn anzurufen, doch sie verwarf ihn auf der Stelle wieder. Es konnte jemand bei ihm sein, und außerdem wollte sie im Moment nicht, dass er sie so sah. Wenn ihr Plan Erfolg hatte, würde sie ihm irgendwann gegenübertreten, aber noch nicht heute. Würde sie sich jetzt dazu verleiten lassen, sich ihm zu zeigen, würde sie niemals mehr den Mut finden, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Sie öffnete ihren Mail-Account, um ihm eine Audio-Nachricht zu senden. Doch sie stellte fest, dass drei Nachrichten auf sie warteten, drei Videomails von Edward Ferrars, und eine davon war gerade erst vor vier Tagen – am Weihnachtsmorgen – versendet worden. Sie spürte eine plötzliche Hoffnung in sich aufkeimen, gemischt mit Sorge. Jetzt, wo sie eine Rote war, war das Internet für sie gefährlicher als je zuvor. Ihr war bekannt, dass die Regierung stichprobenartig die Mail-Accounts der Verchromten überprüfte, und sie konnte nur hoffen, dass Aidans Botschaften unter den Millionen anderen Nachrichten, die kontrolliert werden mussten, verloren gingen.
Sie öffnete die erste Mail, die kurz vor Mitternacht am 8. Dezember verschickt worden war – einen Tag, nachdem sie das Zentrum des Geraden Weges verlassen hatte. Aidans Gesicht war gezeichnet und angespannt, seine Haut kreidebleich, als wäre die Hälfte seines Blutes aus seinem Körper gewichen.
»Hannah, wo steckst du? Ponder Henley hat mich heute Morgen angerufen. Er hat mir erzählt, dass er dich aus dem Zentrum werfen musste. Er hat furchtbare Dinge über dich gesagt, Dinge, die ich kaum glauben kann.« Trotz seiner Aufregung blieb seine Stimme leise. Er musste zu Hause sein und sie angerufen haben, nachdem Alyssa ins Bett gegangen war. »Ich glaube ihm nicht, Hannah, ich weiß, du bist besser, doch …«
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