Die Geächteten
damit gegen alles aufgebäumt, was man sie einst gelehrt hatte. Diese Frau schaute sie jetzt schockiert und bestürzt an, weil sie sehen konnte, dass Hannah es ernst meinte. Und sie schaute sie mit Empathie an, denn wäre sie an Hannahs Stelle, würde Simone genau dasselbe fühlen und wollen. All das konnte Hannah jetzt in ihren Augen lesen. Sie saß regungslos da und beobachtete den Krieg der Emotionen, der in Simones Gesicht tobte. Und dann erkannte sie, dass die Empathie als Sieger aus dem Krieg hervorgegangen war.
Simone atmete tief aus. Vorsichtig nahm sie Hannah die Waffe aus der Hand und legte sie wieder auf den Tisch. »Ich mag so was nicht«, sagte sie.
Hannah beugte sich vor und küsste sie. »Merci.«
Nachdem sie aufgestanden war, um zu duschen, erlaubte Hannah dem verräterischen Gedanken, der in den tiefen Windungen ihres Gehirns sein Unwesen trieb, sich an die Oberfläche zu schlängeln. Nun konnte sie zu Aidan gehen.
Am Ende entschloss sich Simone dazu, für sich selbst ein Auto zu mieten und Hannah den Lieferwagen zu überlassen. »Auf diese Weise bist du in größerer Sicherheit«, sagte sie. Sie durchstöberte völlig nackt und unbefangen ihren Koffer. Hannah, die zuerst geduscht hatte, saß bereits komplett angezogen auf dem Bett. Meine Geliebte , dachte sie mit unverminderter Verwunderung und beobachtete Simone heimlich. Zumindest hoffte sie, dass ihr Gegenüber es nicht merkte.
»Das Logo der Kirche wird keinen Verdacht auf dich lenken«, sagte Simone. »Und du kannst hinten im Wagen schlafen, ohne dass man dich sieht.«
Hannah fragte sich nicht zum ersten Mal, wie die Novembristen sich finanzierten. Sie mussten über reichlich Geld verfügen, wenn sie es sich leisten konnten, ihr ein Fahrzeug zu geben. »Was werden Susan und Anthony sagen, wenn du den Wagen weggibst?«, fragte sie.
»Sie werden ihn wahrscheinlich zurückbekommen oder ein ähnliches Fahrzeug erhalten.« Simone zuckte mit den Achseln. »Wie auch immer, wenn ich etwas entscheide, haben sie nichts dagegen vorzubringen. Susan und Anthony folgen meinen Anweisungen.«
»Wie bitte?«
Simone sah Hannah amüsiert an. »Ich bin ihr Chef.«
Hannah war wie vor den Kopf gestoßen. »Aber ihr habt euch doch alle dem gebeugt, was Susan gesagt hat?«, sagte sie.
»Haben wir das?«
Hannahs Gedanken wanderten zurück zu den Gesprächen, die in dem sicheren Haus stattgefunden hatten. Sie erinnerte sich daran, wie Susan und Anthony ständig auf Simone geblickt hatten – um ihr Instruktionen zu geben, hatte Hannah die ganze Zeit gedacht. Doch nun wurde ihr klar, dass sie bei ihr nachgefragt hatten, um ihre Einwilligung zu erhalten. Und während der letzten Unterhaltung, die Hannah belauscht hatte, war es eigentlich Simone, nicht Susan gewesen, die am Ende die Entscheidung getroffen hatte, sie und Kayla nach Columbus zu schicken.
»Huch«, sagte sie, »da habt ihr vier aber ein gutes Schauspiel abgeliefert«.
»Wir sind ein eingespieltes Team. Susan, Anthony und Paul gehören zu den wenigen, die die Wahrheit kennen. Und du jetzt auch.«
Wieso ich? Doch mit Sicherheit nicht, weil sie miteinander geschlafen hatten. Simone war der letzte Mensch auf der Welt, der sein Urteil von Sex abhängig machen würde. Doch warum sonst sollte sie Hannah etwas anvertrauen?
Simone zog sich fertig an und betrachtete sich kurz im Spiegel. Ihre blassen Augen, die jetzt graublau schimmerten, suchten im Glas die von Hannah. Sie sah in ihnen Anziehung, aber auch einen völlig neuen Respekt ihr gegenüber. Sie spürte etwas, das durch sie hinwegfegte, einen kraftvollen, erfrischenden Aufwind. Und sie erkannte schließlich, dass es Stolz war. Wie lange war es her, seit sie auf sich selbst stolz gewesen war? Mehr als das Gefühl, dass man sie begehrte und ihr Vertrauen schenkte, selbst mehr als das Gefühl, frei zu sein, war die Rückkehr ihrer Selbstachtung ein Geschenk. Ein kostbares Geschenk, denn sie wusste, es war nicht leicht vergeben worden.
Simone zog ihre Jacke an und ging in Richtung Bett. »Und jetzt muss ich kurz weg, um für dich eine Cash-Card und etwas zu essen für die Reise zu besorgen. Je seltener du den Lieferwagen verlassen musst, umso sicherer ist es für dich.«
»Ich habe viel Geld«, warf Hannah ein.
»Du kannst nicht darüber verfügen. In dem Moment, in dem du deinen Ausweis benutzt, weiß die Polizei, wo du steckst.«
»Natürlich, das hatte ich vergessen«, sagte Hannah und fühlte sich töricht und naiv.
»Du musst nicht
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