Die Geächteten
Sie gab Hannah den Atlas, dazu eine Armbanduhr, die gleichzeitig einen Kompass besaß. Hannah schaute die Dinge zweifelnd an. »In jedem Fall«, sagte Simone, »blockiert der Störsender die Sat-Signale. Selbst wenn hier ein Navigationsgerät wäre, würde es nicht funktionieren. So wirst du unsichtbar sein. Nicht einmal wir können deine Spur verfolgen.«
Simone sah sie aus der Nähe an, und Hannah nickte. Sie hoffte inständig, dass Simone ihr die Erleichterung nicht ansehen konnte. Sie hatte noch nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass die Novembristen ihre Bewegungen verfolgen könnten. Ich gäbe einen guten Terroristen ab .
»Das Allerwichtigste, woran du denken musst, Hannah, das, was du sofort tun musst, wenn du glaubst, dass du kurz davorstehst, gefangen genommen zu werden: Mach sofort den Störsender aus. Auf diese Weise erfahren wir davon, und wir können die nötigen Schritte einleiten, um uns selbst zu schützen.« Denn sie könnte während der Befragung bei der Polizei etwas verraten. »Und wenn man dich außerhalb des Lieferwagens aufgreift, lass so schnell wie möglich den Ring fallen.«
»Das werde ich tun«, sagte Hannah, die sich plötzlich demütig fühlte, angesichts der großen Risiken, die Simone für sie einzugehen bereit war. Aus purem Glauben an sie als Frau und Mensch – ein Glaube, das wurde ihr leider bewusst, der zum Teil unangebracht war. Sie schob die Hände unter ihre Oberschenkel, damit sie mit ihnen nicht nervös herumspielte.
Als könne Simone ihre Gedanken lesen, schaute sie Hannah an und sagte: »Ich vertraue dir, dass du zu deinem Wort stehst und zu keinem, den du von früher kennst, Kontakt aufnimmst. Du hast keinen Port, aber das wird dich nicht daran hindern, ein öffentliches Netzwerk zu benutzen oder anzurufen, wenn du in Kanada bist. Wenn du in die Versuchung kommen solltest, dies zu tun, und du wirst in die Versuchung kommen, wenn nicht heute, dann nächste Woche oder nächstes Jahr, erinnere dich daran, dass das Wohl und Leben vieler guter Menschen in deiner Hand liegen.«
Hannah wartete auf eine Drohung, doch Simone sprach keine aus. Irgendwie fühlte sie sich dadurch nur noch schuldiger. »Ich werde mein Wort halten«, sagte sie. Nur dieses eine Mal nicht . »Und ich werde deine Geheimnisse für mich behalten.« Das zumindest konnte sie ehrlichen Herzens versprechen.
»Bon«, sagte Simone. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Und nun muss jeder von uns seine eigene Straße weitergehen. In Québec sagen wir auf zweierlei Weise auf Wiedersehen. Zum einen adieu , das heißt für immer auf Wiedersehen, zum anderen au revoir , das heißt, bis wir uns wiedersehen.« Sie beugte sich vor und küsste Hannah sanft, erst auf die Lippen und dann auf die Stirn. »Au revoir, ma belle. Courage.«
»Au revoir« , antwortete Hannah ganz automatisch. Als sie den Lieferwagen aus der Parklücke fuhr, stellte sie fest, dass sie wirklich hoffte, Simone wiederzusehen.
Hannah fuhr Richtung Nordosten. Regelmäßig musste sie rechts ranfahren, um in den Straßenatlas zu sehen. Sie fluchte, weil es kein Navigationsgerät gab und weil sie jedes Mal die Autobahn verlassen musste, wenn sie die Grenze zwischen zwei Bundesstaaten passieren wollte. Die Karten waren nicht mehr auf dem neuesten Stand, und sie verbrachte zwei Stunden damit, Straßen zu finden, die sie nach Alabama und dann nach Georgia brachten.
Ihren ersten Halt machte sie außerhalb von LaGrange. Der Lieferwagen musste dringend aufgeladen werden, und nach sechseinhalb Stunden hinter dem Steuer musste sie ihre Beine ausstrecken und auf die Toilette gehen. Sie entschloss sich, die geschäftigen, hell erleuchteten Tankstellen-Ketten an der I-85 zu umfahren und stattdessen an einer kleinen, unscheinbaren Tankstelle einige Kilometer abseits der Straße anzuhalten. Sie wählte diese Tankstelle, weil sie nur schwach erleuchtet war und weit und breit keine Kunden zu sehen waren.
Sie scannte gerade die Cash-Card, die Simone ihr gegeben hatte, als sie ein Augenpaar in ihrem Rücken spürte. Sie drehte sich um und sah den Wärter, der sie aus dem Laden heraus beobachtete. Sie begann den Lieferwagen aufzuladen, schloss ihn ab und lief zur Toilette im hinteren Bereich des Gebäudes. Sie lief schnell und hielt dabei den Kopf gesenkt.
»He, Mädchen, wohin willst du?«, rief eine männliche Stimme ihr hinterher.
Hannah stoppte, wandte sich um und sah den Angestellten im Türrahmen stehen. Er war mittleren Alters, hatte
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