Die Geächteten
willst, musst du durchhalten und kämpfen, bis du ganz sicher bist, dass du fliehen kannst. Schlag zuerst mit dem Handballen auf die Nase, und dann nimmst du dir die Eier vor. Benutze nicht das Knie, denn darauf wird er warten, tritt vielmehr so fest, wie du kannst, mit dem Fuß dagegen. Halte niemals an Fernfahrerkneipen an, dort versammeln sich zu viele einsame Männer. Parke nicht in kleinen Städten oder in den Vierteln der Reichen. Verlasse dich immer auf deine Instinkte. Wenn du Angst hast, hast du wahrscheinlich allen Grund dafür.«
Hannah wurde zunehmend unruhig, als sie dieser nüchternen Aufzählung folgte. Sie hatte in den Wochen im Zentrum des Geraden Weges und im sicheren Haus ganz vergessen, wie gefährlich die Welt für eine Verchromte sein konnte. Sie wiederholte Simones Instruktionen und grub sie tief in ihr Gedächtnis ein. Sie wusste, sie konnte es sich nicht leisten, sie zu vergessen.
Schließlich demonstrierte ihr Simone, wie man eine Waffe lud und mit ihr schoss. Als Hannah das kalte Gewicht in ihrer Hand spürte, bezweifelte sie, diese jemals benutzen zu können. Gegen sich selbst würde sie sie richten können, um sich davor zu schützen, gekidnappt zu werden. Aber würde sie, wie Simone sagte, die Waffe auf einen anderen Menschen richten und ihn mit einem Schuss in die Brust töten können, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern oder zu versuchen, mit dem Angreifer zu reden?
Simone nahm ihr die Waffe aus der Hand und legte sie wieder auf den Nachttisch. »Bis Sonnenuntergang haben wir noch ein bisschen Zeit«, sagte sie. Ihre Hand glitt leicht Hannahs Arm entlang bis zum Hals. Dann schenkte sie ihr ein wissendes Lächeln. »Wie sollen wir die Zeit verbringen?«
Hannah versteifte sich unmerklich, doch Simone nahm es wahr. Sie zog ihre Hand weg und hob die Brauen. »Non?«
»Ich weiß nicht«, stammelte Hannah. Heute Morgen hatte sie geglaubt, Aidan sei für sie verloren, doch jetzt wusste sie, dass dies nicht der Fall war, dass sie in zwei Tagen mit ihm zusammen sein würde. Wie konnte sie unter diesen Umständen mit Simone wieder intim werden? Wie konnte sie sich das überhaupt wünschen? Weil es Tatsache war, dass ein Teil von ihr es wollte. »Das ist alles so …« Sie verstummte und schaute auf ihre Hände.
»Hannah.« Als sie nicht aufsah, zog Simone sanft ihr Kinn hoch. »Hör mir zu. Du musst dir darüber nicht den Kopf zerbrechen …« Ihre Hand winkte schnell zwischen ihnen beiden hin und her. »Über das, was zwischen uns passiert ist. Womöglich liebst du Frauen, vielleicht aber auch nicht. Du kannst jetzt, inmitten einer Krise solchen Ausmaßes, gar nicht wissen, wer und was du bist. Doch ich bete zu Gott, dass du die Chance haben wirst, es eines Tages herauszufinden.«
Die Offenheit in Simones Stimme überraschte Hannah. Irgendwie hatte sie die ganze Zeit angenommen, dass diese eine Atheistin war. »Meinst du das wörtlich? Dass du betest?«
Wo ist das Problem?, fragten Simones Augen. »Natürlich. Ohne Gott haben wir kein Ziel, keine Seele. Wir wären einfach nur leere Hüllen, die aus Blut und Knochen bestehen.«
»Aber … Aber du bist doch lesbisch.«
»So?«
»Wie kannst du zu einem Gott beten, der die Homosexualität als verrucht und schändlich betrachtet?«
Simone prustete pietätlos. »Ich glaube nicht an diesen Gott, diesen angepissten Macho-Gott aus der Bibel. Wie sollte so ein Wesen existieren können? Das ist unmöglich.«
Hannah beneidete Simone um deren Bestimmtheit, auch wenn sie ihre Worte anzweifelte.
»Wie kannst du so etwas sagen?«
»Wenn Gott der Schöpfer ist, wenn Gott jede einzelne Sache in diesem Universum geschaffen hat, dann ist Gott alles, und alles ist Gott. Gott ist die Erde und der Himmel, und der Baum, der in die Erde unter dem Himmel gepflanzt wurde, Gott ist der Vogel im Baum und der Wurm im Schnabel des Vogels und der Dreck im Magen des Wurmes. Gott ist Er und Sie, heterosexuell und homosexuell, schwarz und weiß und rot – ja, selbst das«, sagte Simone entschieden als Antwort auf Hannahs skeptischen Blick. »Und Gott ist grün und blau und alles andere. Und wenn der Gott der anderen mich verachtet, weil ich Frauen liebe, oder dich, weil du eine Rote bist und mit Frauen schläfst, dann verachtet Er nicht nur Seine eigene Schöpfung, sondern verachtet auch sich selbst. Mein Gott ist nicht so dumm wie dieser.«
MEIN GOTT . Hannah schüttelte den Kopf, erstaunt über diese Gottesvorstellung. Es gab nur den einen Gott, man konnte
Weitere Kostenlose Bücher