Die Geächteten
sich nicht einen eigenen schaffen. Mit Sicherheit nicht in dem Glauben, mit dem sie aufgewachsen war, denn bei diesem war die Gestalt Gottes so unwiderruflich fest wie die Gestalt in einem Gemälde. Die Hände von Mona Lisa würden immer so verschränkt sein. Sie würde sich niemals umdrehen, um hinter sich zu sehen, niemals würde sie eine fehlgeleitete Locke ihres Haares aus dem Gesicht streichen, und niemals würde sie bis über beide Ohren grinsen. Man konnte sie sich ansehen, aber man konnte ganz gewiss keinen Pinsel in die Hand nehmen, um etwas daran zu ändern, was man nicht mochte. Schon der Gedanke daran war Häresie.
Und dennoch hatten Hannahs Eltern sie gelehrt, dass der Glaube etwas ganz Persönliches sei, etwas, das es nur zwischen ihr und Gott allein gäbe. Der Widerspruch kam Hannah jetzt in den Sinn, als ihr klar wurde, wie klein ihr eigener Wille in ihrem eigenen Glauben gewesen war, wie unbedeutend ihre Meinung.
»Mein Gott ist ein Gott, der unendlich weise ist und unendlich viel Liebe und Mitleid schenkt«, sagte Simone. »Nicht so ein Rüpel, der Seine Zeit damit verbringt, Feuer und …«
»Schwefel regnen zu lassen«, vervollständigte Hannah den Satz.
»Feuer und Schwefel auf Homosexuelle.«
Konnte es wirklich wahr sein oder war es nur Simones Wunschdenken – und ihr eigenes?
Denn wenn Simone recht hatte, könnte Hannah vielleicht einen Weg zu Ihm zurück finden.
»Dein Gott ist schön«, sagte sie.
»Aber natürlich«, sagte Simone.
Schön und verlockend. Hannahs Mutter hätte bestimmt gesagt, das habe ihr der Satan ins Ohr geflüstert, doch es fühlte sich absolut nicht danach an. Dafür fühlte es sich zu rein an, zu numinos. Sie zögerte, doch dann fragte sie: »Hast du Ihn jemals verloren?«
»Ich dachte, ich hätte Ihn verloren, nachdem man mich vergewaltigt hatte, doch das war blödsinnig. Wie kannst du etwas verlieren, das in dir ist, das in jedem Molekül deines Körpers steckt? Du kannst Gott genauso wenig verlieren wie du dein Hirn oder deine Seele verlieren kannst. Ohne Gott, ohne Hirn, ohne Seele gibt es dich nicht.«
»Dann ist da nur Leere«, murmelte Hannah, und während sie dies sagte, kam der Traum, den sie hatte, als sie bewusstlos war, wieder zurück. Nur die Leere, kalt und schwarz und leer. Ein Ort, wohin sie nie wieder gehen wollte. Sie schauderte bei dem Gedanken. Simone sah es, tat jedoch nichts, um sie zu trösten. Ihr Blick war unverändert mitfühlend und stellte keine Fragen.
Hannah beugte sich vor und küsste sie zart auf die Wange. »Danke. Danke für alles.«
Simone lächelte. »Es war mir ein Vergnügen.«
Mir auch , dachte Hannah, und da gibt es nichts drum herum zu reden .
Simone ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite, um hinauszusehen. »Die Sonne ist untergegangen. Es wird Zeit zu gehen«, sagte sie.
Als sie zusammenpackten, dachte Hannah darüber nach, wie einfach es doch war, in Hotelzimmern sein Zeitgefühl zu verlieren. Mit Aidan war die Zeit immer viel zu schnell vergangen, und dann war es schon wieder Zeit, sich davonzustehlen, erst sie und dann er, raus in die Nacht, jeder in sein Leben zurück. Niemals hatte sie mit ihm das erlebt, was sie heute mit Simone erlebt hatte: einfach neben ihm zu liegen und zu sehen, wie das Licht der Morgendämmerung sein Gesicht erleuchtete.
Vielleicht würde sie es in zwei Tagen erleben.
Als sie zum Lieferwagen gingen, überraschte Simone Hannah mit der Frage, ob sie fahren wolle. Es war Monate her, und anfangs fuhr Hannah etwas ruckartig. Simone gab ihr Anweisungen, doch ansonsten war sie ruhig, nachdenklich. Hannah selbst wurde immer nervöser. Hegte Simone einen Verdacht? War sie gerade dabei, ihre Meinung zu ändern? Hannah sah auf die Straße und versuchte nicht so schuldig auszusehen, wie sie sich fühlte.
Doch nachdem sie angekommen waren und sie eingeparkt hatte, programmierte Simone den Lieferwagen so, dass dieser auf Hannahs Biometrik reagierte, und zog ein großes Buch unter dem Fahrersitz hervor: einen abgenutzten Straßenatlas für Nordamerika, der mindestens zehn Jahre alt war. »Wofür soll der gut sein?«, fragte Hannah.
Simone zeigte auf das Armaturenbrett, und Hanna bemerkte zum ersten Mal, dass dort kein Navigationsgerät war. »Wir benutzen keine Navigationsgeräte. Sie besitzen ein Erinnerungsvermögen, und die Sat-Gesellschaften bewahren Daten auf, die sie der Polizei aushändigen müssen, wenn diese es verlangt. Also fahren wir auf die altmodische Art durchs Land.«
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