Die Geächteten
ich brauche einen Plan . Die wohl dringlichste Frage war, wo sie leben sollte. Es war bekanntermaßen schwierig für Verchromte, außerhalb des Ghettos, in dem sie sich zusammenscharten, eine Bleibe zu finden. Hannah wusste, dass es in Dallas drei Ghettos gab, eines im Westen, ein anderes im Süden und ein drittes, das Chromewood genannt wurde und ehemals Lakewood war. Die ersten beiden waren bereits Ghettos, als man mit der Verchromung begann, Lakewood jedoch war einst ein achtbares Viertel der Mittelschicht gewesen. Wie seine Pendants in Houston, Chicago, New York und anderen Städten hatte seine Veränderung mit gerade einer Handvoll von Verchromten begonnen, die in genau dieser Gegend Häuser oder Wohnungen besaßen. Als deren gesetzestreue Nachbarn versuchten, sie zu vertreiben, schlossen sie sich in Banden zusammen und leisteten Widerstand. Sie hielten so lange aus, bis stattdessen die Nachbarn sich entschieden, das Viertel zu verlassen, erst einer, dann zwei, dann ganze Heerscharen, als die Preise für Grundstücke und Häuser in den Keller rutschten. Hannahs Tante Jo und ihr Onkel Doug waren unter denen, die zu lange gewartet hatten. Und am Ende bekamen sie nur ein Drittel dessen, was ihr Haus einmal wert gewesen war. Onkel Doug starb kurze Zeit später an einem Herzinfarkt. Tante Jo sagte immer, die Verchromten hätten ihn getötet.
Wenn Hannah daran dachte, an einem solch höllischen Ort – umgeben von Drogendealern, Dieben und Frauenschändern – leben zu müssen, verlor sie den Mut. Doch wohin sollte sie sonst gehen? Auch Beccas Haus stand nicht zur Wahl. Ihr Ehemann Cole hatte ihr verboten, jemals wieder mit ihrer Schwester zu sprechen (obwohl Becca dieses Verbot bereits mehrfach missachtet hatte, als sie Hannah im Gefängnis besuchte).
Wie üblich sank Hannahs Stimmung beim Gedanken an ihren Schwager auf den Nullpunkt. Cole Crenshaw war ein arroganter bulliger Typ von Mann mit einem schiefen, schmierigen Grinsen, das sofort verschwand, wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte. Er war Hypothekenmakler, stammte ursprünglich aus El Paso und hatte eine Vorliebe für Westernkleidung. Becca hatte ihn vor zwei Jahren in der Kirche getroffen, einige Monate bevor ihr Vater verletzt worden war. Ihre Eltern waren von ihm eingenommen und hatten ihn gebilligt – Becca hätte ihn nicht wiedergesehen, wenn die Eltern es nicht gewollt hätten –, doch Hannah konnte sich von Anfang an nicht mit ihm anfreunden.
Sie begegneten sich, als er zum ersten Mal zum Mittagessen kam. Hannah hatte Cole zwar bei mehreren Gelegenheiten getroffen, aber nie lange mit ihm gesprochen, und so war sie ganz erpicht darauf, ihn näher kennenzulernen. Auch wenn er und Becca sich erst seit sechs Wochen verabredeten, war diese bereits so verknallt, wie Hannah es zuvor bei ihr noch nie erlebt hatte.
Anfangs war er überaus charmant und machte ein Kompliment nach dem anderen: für Beccas Kleid, Hannahs Stickarbeiten, für den Spinatdip ihrer Mutter, für das Glück ihres Vaters, drei so liebliche Frauen um sich zu haben, die sich um ihn kümmerten. Sie saßen am Esstisch und aßen gerade die Vorspeise. Im Hintergrund lief das Video, und als neue Bilder von einer Schießerei an einem örtlichen College ihr Essen unterbrachen, stellten sie den Ton lauter. Der Bewaffnete, ein Student des College, hatte seinen Professor und acht seiner Kommilitonen erschossen. Zuvor hatte er ihnen Fragen über das Buch Mormon gestellt und diejenigen mit einem einzigen Schuss in den Kopf hingerichtet, die eine falsche Antwort gegeben hatten. Als er mit der Befragung in seiner Klasse fertig war, verließ er mit erhobenen Händen das Gebäude und stellte sich der Polizei. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als sie ihn hinten in den Mannschaftswagen schoben, war gespenstisch friedlich.
»Diese armen Menschen«, sagte Hannahs Mutter. »Was für ein Tod.«
Cole schüttelte angewidert den Kopf. »Neun unschuldige Menschen umgebracht, und dieses Tier lebt noch.«
»Na ja«, erwiderte Hannahs Vater, »in einem Bundesgefängnis wird er nicht viel vom Leben haben.«
»Alles, was er an Leben haben wird, ist zu viel, so denke ich zumindest«, sagte Cole. »Ich werde niemals verstehen, weshalb wir die Todesstrafe abgeschafft haben.«
Beccas Augen weiteten sich und spiegelten Hannahs eigenes Entsetzen, und ihre Eltern tauschten einen besorgten Blick. Die Paynes waren gegen die Todesstrafe, genauso wie Pastor Dale, doch dies war eine Streitfrage innerhalb der Kirche
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