Die Geächteten
dunkel, und sie orientierungslos. Hatte sie die Töne nicht gehört? Sie tastete sich in die Richtung der Pritsche, legte sich auf den Rücken und gab sich ihren Erinnerungen hin. Raphael war ihr gegenüber so behutsam, so mitfühlend gewesen. So ganz anders als die Ärztin der Polizei, die sie in der Nacht nach ihrer Festnahme untersucht hatte. Eine Frau, nicht viel älter als Hannah, mit kalten Händen und noch kälteren Augen, untersuchte ihren Körper mit rabiater Effizienz, während sie mit gespreizten Beinen dalag, mit ihren Knöcheln an Steigbügel gefesselt. Wenn sie zuckte, sagte die Ärztin: »Wenn du dich noch einmal bewegst, rufe ich den Aufseher, damit er dich festhält.« Hannah wurde starr. Der Aufseher war jung und männlich, und er hatte ihr etwas zugemurmelt, als der Polizist sie in den Untersuchungsraum geführt hatte. Sie hatte das Wort »Fotze« gehört, der Rest war glücklicherweise unverständlich gewesen. Sie biss die Zähne zusammen und blieb trotz des stechenden Schmerzes während der restlichen Untersuchung völlig unbeweglich.
Schmerz . Etwas Spitzes wurde in ihren Arm gestochen, und sie schrie auf und machte die Augen auf. Zwei strahlende weiße Gestalten schwebten über ihr. Engel , dachte sie traumverloren. Raphael und ein anderer, vielleicht Michael . Sie drehten sich über ihr, erst langsam, dann schneller, gingen ineinander über. Ihre riesigen weißen Flügel stießen sie hinauf in den Himmel.
ALS DIE LICHTER ANGINGEN, ÖFFNETEN SICH HANNAHS LIDER nur widerwillig. Sie hatte einen dicken Kopf, als wäre ihr Schädel mit Watte gefüllt. Sie zwang sich in eine Sitzhaltung und bemerkte ein leichtes Wundsein an ihrem linken Handgelenk. An der Unterseite befand sich eine Einstichwunde mit einem violetten Kreis darum. Sie beobachtete sich auf der Suche nach weiteren feinen Veränderungen selbst im Spiegel. Ihr Gesicht war etwas voller, die Wangenknochen stachen nicht mehr so stark hervor. Sie hatte zugenommen, vielleicht einige Pfund, und obwohl sie sich immer noch wackelig fühlte, war ihre Lethargie verschwunden. Sie grub in ihren Erinnerungen und förderte die beiden weißen Figuren zutage, die sie gesehen hatte. Sie mussten sie ruhiggestellt und sie intravenös ernährt haben.
Auch in der Zelle hatte sich irgendetwas verändert, aber sie wusste nicht genau, was es war. Alles sah genauso aus wie zuvor. Und dann hörte sie es: ein hell klingendes, monotones Summen hinter ihr. Sie drehte sich um und erspähte eine Fliege, die eine der Spiegelwände heraufkrabbelte. Zum ersten Mal seit ungefähr fünfundzwanzig Tagen war sie nicht mehr allein. Sie winkte mit dem Arm, und die Fliege flog hoch und schwirrte im Raum umher. Als sie sich wieder niederließ, winkte Hannah erneut, einfach weil es sie freute zu sehen, wie sie sich bewegte.
Hannah ging durch die Zelle, sie fühlte sich ruhelos. Wie lange war sie ohne Bewusstsein gewesen? Und wie lange würde es noch dauern, bis sie in die Freiheit kam? Sie hatte sich selbst verboten, darüber nachzudenken, was nach diesen dreißig Tagen sein würde. Die Zukunft war unvorstellbar, eine gähnende Leere. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sich diese Spiegelwand irgendwann öffnen und sie aus dieser Zelle gehen würde – dem wartenden Aufseher folgend bis in den Bereich, wo man ihr Kleider geben und ihr erlauben würde, sich umzuziehen. Sie würden sie fotografieren und ihr einen neuen Ausweis geben, der ihr rotes Aussehen dokumentierte, die fürstliche Summe von dreihundert Dollar auf ihr Bankkonto überweisen und sie dann über die Zusatzpunkte ihrer Verurteilung informieren. Das meiste davon wusste sie bereits: Sie durfte Texas nicht verlassen, sie durfte sich nirgendwo ohne ihren Pass aufhalten, sie durfte keine Schusswaffen kaufen und musste alle vier Monate in ein Bundes-Chrom-Zentrum kommen, um sich dort eine neue Spritze abzuholen. Dann würden sie sie zum Tor begleiten, durch das sie hineingekommen war, und sie in die Außenwelt entlassen.
Die Aussicht, über diese Schwelle zu treten, erfüllte sie mit Sehnsucht und Beklemmung zugleich. Sie würde frei sein – aber wohin sollte sie gehen und was sollte sie tun? Nach Hause konnte sie nicht, das war das Einzige, was sicher war. Ihre Mutter würde das niemals erlauben. Würde ihr Vater da sein, um sie abzuholen? Wo würde sie leben? Wie sollte sie die nächste Woche überleben? Die nächsten sechzehn Jahre?
Ein Plan , dachte sie, während sie ihre wachsende Panik unterdrückte,
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