Die Gebeine von Avalon
Berechnungen herauszufinden meine … hat es mich je in die Lage versetzt, ohne Zweifel vorherzusagen, dass es
so, genau so und nicht anders
kommen würde?
Und jene, die das tun – haben sie etwa Bücher gelesen, die mir nicht zur Verfügung stehen? Gibt es einen heiligen Gral der Zukunftsdeutung, der verschwiegen von einer Hand zur nächsten gereicht wird? Ich weiß es nicht. Und das ist das Schlimmste daran. Ich, der ich Unwissen verabscheue,
weiß es nicht.
«Wer hat diese Prophezeiung verfasst, John?»
Frischer Schweiß glänzte im Kerzenlicht auf Dudleys Gesicht, das immer noch vom Fieber gerötet war. Mit dem Brief in der Hand stand ich neben seinem Bett, und er bat mich, dass ich ihn noch einmal vorlesen möge. Stattdessen wiederholte ich nur die Schlüsselzeilen.
Ihre Nächte sind voller Qual, die Tage eine Last. Unsere Schwester wurde über schlimme Prophezeiungen unterrichtet, und man sagte ihr, dass Morgan le Fay ihr keinen Frieden lassen wird, bis zur Stunde, da ihr heldenhafter Vorfahre in Ehren bestattet sei.
«Na gut», sagte Dudley. «Wer könnte ihr das prophezeit haben?»
«Vielleicht einer der Unseren, vielleicht jemand aus dem Ausland. In London gibt es an jeder Ecke einen Seher. Europa quillt über vor Propheten. Ganz besonders nach dem, was mit dem König von Frankreich geschehen ist.»
Dudley beugte sich vor.
«Du warst doch dort, nicht wahr? Warst du nicht in Frankreich, als es passierte?»
«Nein. Aber ich ließ mir einen Bericht darüber zusenden.»
Von einem Studenten, der eine meine Vorlesungen in Paris besucht hatte. Er schickte mir den Bericht zusammen mit einer getreuen Abschrift des Horoskops, das angeblich von Rom aus nach Paris geschickt worden war – jenes Horoskop, in dem König Henri warnend gemahnt wurde, alle Zweikämpfe in der Arena zu meiden, insbesondere um das einundvierzigste Lebensjahr herum. Jenes Horoskop, das eine Kopfverletzung voraussagte, die zu Blindheit führen würde.
«Rom?»,
fragte Dudley überrascht. «Ich dachte, die Prophezeiung stamme von diesem Nostradamus, der am französischen Hof lebt.»
«Nein, die hat ein Italiener verfasst, Luca Gaurico. Er ist mir persönlich ebenso wenig bekannt wie Nostradamus – die Königin von Frankreich hatte Letzteren allerdings beauftragt, Gaurico und seine Prophezeiung zu überprüfen. Das war, nachdem der König beschlossen hatte, sie auf die leichte Schulter zu nehmen und zu ignorieren. Ich fand die ganze Sache von Anfang an in höchstem Maße fragwürdig.»
«Ach ja, natürlich, John. Wir wissen ja alle, dass du lediglich
Strömungen im Universum
aufzeigst … und niemals so töricht wärest, Verletzungen oder den Tod vorherzusagen.»
«Und dass ich allen misstraue, die es tun.» Ich hatte beschlossen, seinen Sarkasmus zu ignorieren, und faltete den Brief von Blanche wieder zusammen. «Bisher dachte ich, dass die Königin meine Dienste genau deshalb nützlich findet – wegen meiner Fähigkeit, einen Schwindel zu erkennen und einen gelehrten Rat zu erteilen. Aber da habe ich mich anscheinend getäuscht. Offensichtlich ist sie insgeheim begierig auf das Spektakuläre.»
«Natürlich ist sie das. Deswegen mag sie ja auch mich so sehr. Aber was hättest
du
über diesen Burschen aus Rom gesagt … wenn er
ihren
Untergang prophezeit hätte? Hältst du so etwas denn für unmöglich?»
Ich musste an die Wachsfigur im Sarg denken, die in der Gasse neben dem Fluss gefunden worden war. War ich zu leichtfertig davon ausgegangen, dass sie der Königin nicht schaden konnte? Tat ich all das zu leichtfertig ab, was ich trotz meines gelehrten Wissens selbst nicht zustande brachte?
«Ich glaube … dass es
möglich
ist, aber ziemlich unwahrscheinlich. Ich denke, es gibt Menschen, die dieselben Sterne sehen wie auch ich und die gleichen Berechnungen anstellen, aber dann … entweder hat Gott dabei selbst die Hand im Spiel, oder es gibt irgendeine Fähigkeit, ein verborgenes Organ der Wahrnehmung, das … bei mir nicht funktioniert.»
«Deine blinde Selbstherrlichkeit verschlägt mir den Atem», stellte Dudley fest.
«Trotzdem handelt es sich zumeist um Täuschungen, aus denen man Kapital zu schlagen sucht.»
Und dennoch …
Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Prophezeiung war scheinbar in Erfüllung gegangen, auf einem Turnier zu Ehren der Vermählung zwischen der Tochter des französischen Königs und Phillip II . von Spanien. Was die Menschen natürlich mit Angst und gleichzeitig Ehrfurcht vor dem
Weitere Kostenlose Bücher