Die Gebeine von Avalon
Abtei auf einmal zum reichen Mann.»
«Ganz genau», sagte sie. «Das ist der springende Punkt.»
†
Ich nehme an, dass es draußen weiterhin donnerte und blitzte, aber mehrere Minuten lang nahm ich nichts davon wahr.
«Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie es damals hier zuging», sagte Nel Borrow. «Ich war noch klein, aber einige meiner frühesten Erinnerungen sind jene an Angst und Unglück – an düster gekleidete Gestalten mit gesenktem Kopf. An den Schädel neben dem Empfangshäuschen. Niemand wagte es damals, irgendwelche Fragen zu stellen, weil jeder befürchtete, dann selbst den Kopf zu verlieren.»
Ich dachte darüber nach, und langsam ergab das alles einen Sinn. Man hatte Abt Whiting damals dafür angeklagt, gewisse Gegenstände vor Thomas Cromwells Männern versteckt zu haben. Unter anderem einen goldenen Pokal, wie ich mich erinnerte. Außerdem war die Rede von Schriften, in denen er sich in illoyaler Weise über den König geäußert haben sollte. Ihn
kritisiert
habe.
Wer sie gefunden hatte? Das wusste niemand so genau. Allerdings wäre das für einen Außenstehenden sicher sehr viel schwieriger zu bewerkstelligen gewesen als für jemanden, der in der Abtei lebte.
«Fyche hat also seinen Abt verraten», sagte ich.
«Es war mehr als ein einfacher Verrat.»
Das stimmte. Fyche hatte in einem abgekarteten Spiel womöglich erst dafür gesorgt, dass man dem Abt Diebstahl und Hochverrat überhaupt zur Last legen konnte. Ja, so musste es gewesen sein, wenn Fyche danach mit Land, Geld und der Erhebung in den Adelsstand ausgezeichnet worden war. Eine kleine Gabe aus der geraubten Schatztruhe der Klöster.
Außer natürlich … diese ungewöhnliche und schöne Frau hatte mich belogen. Oder aber sie ließ sich von ihrer Trauer blenden. Gott, eigentlich wollte ich über diese Möglichkeit nicht einmal nachdenken. Doch wer in dieser dunklen Welt überleben wollte, lernte schnell, dass man besser alles für möglich hielt.
«Kommt es Euch nicht auch merkwürdig vor, dass man den Abt gleich zum Tode verurteilen musste?», fragte sie.
«Man wollte wohl ein Exempel statuieren.»
«Ach … und wozu? Zu diesem Zeitpunkt war doch hinlänglich bekannt, was einem bei Widerstand gegen den König blühte.»
Da hatte sie recht. Glastonbury war eine der letzten Abteien gewesen, derer die Krone sich bemächtigt hatte. Und es war nicht gerade so, dass sich hier eine gefährliche Armee aufwieglerischer Mönche verschworen hatte, die man durch Angst und Schrecken hätte einschüchtern müssen. Der fast rituelle Tod des Abts und die anschließende Vierteilung und Zurschaustellung des Leichnams … das erschien selbst für die damalige Zeit willkürlich und übertrieben.
Hatte man ihn zum Schweigen bringen wollen? Und das mit einem blutigen Spektakel getarnt?
Noch einmal: wieso? Nach allem, was Nel erzählt hatte, ließ sich kaum noch bezweifeln, dass Fyche in diese Sache verwickelt gewesen war. Aber bedeutete dies dann auch, dass er Cate Borrow fälschlich wegen Hexerei und Mord angeklagt hatte, weil sie die wahren Zusammenhänge vermutete? Bestimmt war sie da nicht die Einzige gewesen, doch hatte niemand anderes deshalb sterben müssen … oder vielleicht doch?
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, erhob Nel sich halb vom Stuhl.
«Mir ist klar, dass dahinter noch mehr steckt …» Sie setzte sich wieder und schüttelte dabei den Kopf. «Wenn wir nur wüssten, worum es dabei ging.»
Sie zitterte heftig. Dass sie keine wirklichen Beweise gegen Fyche hatte, war ihr klar, sie sollte aber nicht glauben, ich würde mich nun von ihr abwenden, insbesondere in ihrer schwierigen Lage. Dennoch gab es noch ein paar Fragen, die ich ihr stellen musste, damit ich die Sache einem skeptischen Robert Dudley am Morgen erklären konnte.
«Fyche hat mir von Hexenzirkeln am Tor berichtet, von Zauberei und der Opferung von Neugeborenen –»
«
Das
hat er behauptet?»
Sie öffnete weit die Augen.
«Er sagte, der Hügel zöge solche Leute an wie wimmelnde Maden», antwortete ich. «Dort würden sie dann den Mond anheulen und Säuglingen die Kehlen durchschneiden.»
«Lieber Himmel!» Sie beugte sich hinunter zu ihrem Umhang, der zusammengefaltet auf der Tasche lag. «Ja, ja, ich weiß schon, woher dieses Gerücht stammt. Letztes Jahr hat man dort einen Säugling gefunden. Eine Totgeburt. Ein einziges Mal. Derlei kommt vor. Auch wurden auf dem Tor einstmals Sonne und Mond verehrt. Heutzutage ist davon wohl nicht
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