Die Gebeine von Avalon
Abend – mein Vater las uns gerade aus Malory vor und machte sich über seine Version der Artussage lustig …»
«Aus gutem Grund.»
«Er las uns das nur zur Unterhaltung vor, und wir sprachen über Artus, Avalon und sein Begräbnis. Mein Vater erwähnte, dass die Gruft wegen des Marmors geplündert worden war, aber meine Mutter sagte mir später, dass das keine Rolle spiele, denn da sei nichts mehr zu holen gewesen. Die Gruft war bereits leer.»
«Glaubt Ihr, der Abt hat die Gebeine fortgebracht, weil er ahnte, was kommen würde?»
«Irgendjemand hat es getan.»
«Aber Eure Mutter sagte doch, sie wären nicht mehr in der Stadt.»
«Ich glaube, eigentlich sagte sie eher:
In Glastonbury braucht niemand mehr danach zu suchen.
»
«Und legte damit den Schluss nahe, dass sie wusste,
wo
sie versteckt wurden.»
«Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Sie hat nie wieder darüber gesprochen. Obwohl sie es, glaube ich, manchmal wollte, wenn wir alleine waren.»
Das brachte uns nicht wirklich weiter. Aber es war ein Anfang. Indes, Mistress Borrow hatte noch mehr zu erzählen. Sie zögerte einen Moment, als überlegte sie, ob man auch dann einen Vertrauensbruch begeht, wenn man Geheimnisse bereits Verstorbener preisgab.
«Meine Mutter … wusste, glaube ich, über den Ort vieler geheimer Dinge Bescheid. Auch wo sich noch andere Hinterlassenschaften von Artus befinden.»
Ich setzte mich auf und dachte daran, was Monger über verborgene Wunder gesagt hatte. Sie lächelte bedauernd.
«Ich meine nicht den Heiligen Gral. Die meisten Leute sagen ohnehin, dass er in Wirklichkeit gar nicht existiert. Dass er nur eine Vision ist.»
«Nur –»
«Aber sie hat einmal König Artus’ Runde Tafel erwähnt.»
«Eure Mutter glaubte, dass die Runde Tafel erhalten geblieben ist? Hier? In dieser Stadt?»
«Es war nur eine kurze – Was habt Ihr denn?»
Ich erzählte ihr vom Knochenhändler Benlow und dem Kistchen mit seinem Eichensplitter, das ich beinahe mitgenommen, dann aber doch dagelassen hatte. Sie lachte.
«Hat er Euch geraten, es in Eurem Hosenlatz aufzubewahren, und dann angeboten, Euch behilflich zu sein?»
«Hm …», seufzte ich. «Aus Eurer Reaktion schließe ich, dass Benlow wohl nicht unbedingt zu den Suchenden zu zählen ist, oder?»
«Da habt Ihr ganz recht.»
«Dann wird man ihn auch nicht in die Geheimnisse eingeweiht haben …»
«Dr. John, dieser Mann würde die Knochen seiner eigenen Mutter verkaufen.» Ihr Ausdruck wurde wieder nüchterner. «Meine Mutter sprach von der Runden Tafel mehr in einem spirituellen Sinne, so wie die Mystiker vom Gral. Sie war eine einzigartige Frau. Ich denke, sie wusste viel über die Dinge, die in der Tiefe vor sich gehen.»
«Ihr meint im Boden?»
«Kann ich wirklich nicht sagen, Dr. John», antwortete sie. «Aber ich glaube, das war –»
Sie verstummte, als ein Blitz das Zimmer mit zuckendem Licht erfüllte, und wir warteten den folgenden Donner ab. Diesmal folgte er auf dem Fuß, und das Fenster klapperte heftig.
«Ich glaube, das war der Grund, warum sie ermordet wurde», sagte Eleanor Borrow.
XXVIII Das unausgesprochene Geheimnis
A uf dem Tisch zwischen uns hatte sich ein glänzender Hügel aus Kerzenfett gebildet. Talg. Es roch wie ein Schlachterbrett.
Ich lehnte mich zurück, die Hände gefaltet, die Daumen gegens Kinn gedrückt, und überlegte: Wann wird aus einer Exekution ein Mord?
Eine Antwort: Wenn es dabei nicht um Gerechtigkeit geht. Wenn das Gesetz gedehnt und gebeugt wurde, nur damit am Ende ein Todesurteil herauskommt. War König Heinrich denn etwa nicht des Mordes an Anne Boleyn und Catherine Howard schuldig?
Das ist das unausgesprochene Geheimnis. Die Gesetze der Menschen werden als Gesetze Gottes ausgegeben und sind in Wirklichkeit doch nur Werkzeuge in den geübten Händen der Mächtigen.
«Ihr solltet derlei besser nicht so offen sagen, Mistress», erwiderte ich sanft.
«Das tue ich sonst auch nicht. Außer bei Menschen, denen ich …» Sie zögerte. «Denen ich traue, als gehörten sie zu meiner eigenen Familie.»
Ich spürte ein Leuchten in mir aufglimmen wie ein kleines Glühwürmchen.
«Mistress Borrow, ich –»
«Oh, es gibt verschiedene Arten von Verwandtschaft. Während meines Studiums in Bath habe ich einige Eurer Schriften gelesen. Auch traf ich dort Leute, die Euch aus Louvain kannten, wo man frei und offen disputieren kann. Nach allem, was ich über Euch weiß, sind für Euch Wissen, Geist und Seele
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