Die Gebeine von Avalon
«Wenn ich arbeite,
kenne
ich keine Sorgen. Ging es Eurer Mutter nicht ebenso, wenn sie ihren Garten bestellte?»
«Sie …» Ein sehnsüchtiges Lächeln. «… sorgte sich um zweihundert verschiedene Kräuter. Das beanspruchte viel von ihrer Zeit. Bestünde das Leben allein aus Arbeit und dürften wir ihr noch dazu ungestört nachgehen …»
«Würden manche von uns keinen Kummer kennen.»
Und auch keine Freude,
hätte meine Mutter schnippisch erwidert, denn das intellektuelle Vergnügen der Gelehrsamkeit war ihr nicht bekannt.
«Sie fühlte sich so geborgen in ihrem Garten», sagte Nel. «Offenes Land mit Blick bis zum Meer, und auf der anderen Seite ragte der Tor auf, und dann die hohen goldenen Zinnen der Abtei. Es war ein Paradies. Avalon.»
Ich dachte an meinen eigenen, himmlischen Garten, wo anstelle von Blumen die Sternenkonstellationen eine unergründliche Symmetrie bildeten, die tiefe Sehnsucht in mir weckte.
«Kümmert Ihr Euch noch um den Garten?»
«Nun ja … so gut ich es eben vermag. Jetzt wachsen darin nur halb so viele Kräuter wie zuvor. Als die Abtei noch existierte, erhielt meine Mutter von dort Unterstützung. Selbst der Abt … der Abt kam oft vorbei, und die beiden unternahmen dann lange Wanderungen über die Felder und durch das Marschland und sammelten dabei verschiedene Pflanzen …»
Während sie mir davon erzählte, sah ich den glitzernden Fluss vor mir, als wäre es Sommer, Bäche schimmerten am Rande der Felder im Licht, und blauweißer Nebel stieg auf, wie der Geist des längst verdrängten Meeres.
«… und ebenso war es eine Weile mit Master Leland.»
«
John
Leland? John Leland, der Antiquar?»
Ich kniff mir in den Oberschenkel, um sicherzugehen, dass ich nicht bereits in andere Sphären entschwebte.
«Ja, derselbe, der Register anlegte und Karten erstellte.»
«John Leland arbeitete mit Eurer Mutter und dem Abt zusammen im Garten?»
«Nicht mit dem Abt, denn der misstraute ihm, glaube ich. Aber er kam manchmal her und unternahm Wanderungen mit meiner Mutter. Armer Master Leland.»
Sie seufzte, und ihr Seufzer wurde zu einem Gewebe aus dunklen Schatten, das sie umhüllte. Ihr Körper zeichnete sich im Licht vor den umbrafarbenen Schattierungen des Waldes im Hintergrund ab, und ich musste die Augen abwenden. Dass Leland Interesse an Kräuterkunde gehabt hatte, war mir vollkommen neu. Ich dachte, ihn hätten nur alte Manuskripte und die verschiedenen englischen Landschaften interessiert.
«Das tat er aber nicht schon bei seinem ersten Besuch hier in der Stadt, oder?»
«Er kehrte zurück.»
«Ich weiß. Nach der Auflösung der Abtei.»
Auflösung.
Das Wort sprudelte nur so aus mir hervor, wie ein klarer Bach über Kiesel. Ich beugte mich vor und ließ ihn durch die Finger rinnen.
«Ich kann mich noch an einen Besuch von Master Leland erinnern, sein bartloses Gesicht vor mir sehen, knochendürr wie eine römische Statue. Ich erinnere mich, wie er schrie: So
begreift doch, ich bin nun mein eigener Herr.
Das sagte er immer wieder.»
«Was meinte er damit? War er noch bei klarem Verstand? Es ist nämlich so …»
«Woher soll ich das wissen. Ich war noch jung.»
Noch jung.
Ich schaute ins Zentrum des Kerzenlichts, wo sich kleine Flammen zu einer einzigen verbanden, einem Licht so hell wie der Vollmond. Und ich fühlte, dass mir das Herz in der Brust anschwoll wie blutroter Mohn kurz vor dem Bersten.
Lass das. Lieber Himmel.
Denk nach.
Ich hob den Kopf, was mich viel Zeit zu kosten schien.
«Wusstet Ihr, dass Leland in seinen letzten Lebensjahren wahnsinnig wurde?» Weil ich zu schwanken glaubte, hielt ich mich am Bettpfosten fest. «Es heißt, sein Geist brach unter dem großen Ausmaß seiner Obsession zusammen … der schier unmöglichen Aufgabe, das gesamte Land allein zu kartographieren.»
«Ich weiß nur, dass mein Vater ihm nicht traute. Er sagte, beim ersten Mal sei Leland hergekommen, um Schätze zu sammeln, und bei seinem zweiten Besuch wolle er nun gleich den ganzen Ort an sich reißen.»
Der Stein in meiner Hand bewegte sich.
«Mein Vater hat mir außerdem erzählt, dass Leland bei seiner letzten Reise hierher auf der Suche nach ehemaligen Mönchen der Abtei war. Er hat sich auf ihre Spuren begeben.»
«Leland?»
Ich öffnete die Hand. Der Stein lag ganz ruhig darauf.
«Aber die wollten nichts mit ihm zu tun haben. Sie gaben ihm zum Teil die Schuld am Tod von Abt Whiting.»
«Was
wollte
er denn von den Mönchen?»
Das schien der
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