Die Gebeine von Avalon
Sonne.
XXXI Dunst
A ls ich tot war, regnete es.
Es war ein zarter, regenbogenfarbener Schauer, der unter dem kohlrabenschwarzen Himmel glitzerte.
Von ferne erklang ein weicher, melodiöser Gesang, und die Luft war erfüllt von leichtem Apfelduft.
Ich erzähle Euch davon, ohne zu wissen, wie viele Stunden verstrichen, denn die Zeit verlief dort anders. Nichts war so, wie ich es kannte, und obwohl ich wusste, dass ich tot war, war mir doch klar, dass es nicht das Ende für mich bedeutete.
Nun schritt ich durch Wasser.
Klares, weiches Wasser, welches das Gras überflutete und in Kaskaden die Hügel hinabfloss. Wasser wie Musik.
Ich lief barfuß, das Gras nass und glitschig zwischen meinen Zehen. Als würde mich jemand an der Hand führen, trugen mich meine Füße durch das Land, auf ein paar dicht nebeneinanderstehende Apfelbäume zu. Ich konnte ihren Duft wahrnehmen, den Geruch von Äpfeln, das Aroma von Cider und all die Gerüche des Spätsommers.
Auf der anderen Seite erhoben sich der Tor und die aufragenden Zinnen der Abtei.
Ich ging durch den alten Obstgarten, und die Äste der Apfelbäume schrammten über meine nackte Haut.
Und dann befand ich mich plötzlich im Himmel.
Nicht als Körper, sondern als Geistwesen, das aus feinster Luft bestand. Und ich durchschritt den Garten des Firmaments, Sterne umkreisten meine Hände, ganze Welten, die ich hätte festhalten können, obwohl es mich nicht danach verlangte, denn alles, was ich mir wünschte, war, in Frieden mit ihnen zu existieren und dieses ewige Wunder zu erleben. Und für einen winzigen Augenblick verstand ich
beinahe
Sein Wesen und Denken.
Es kam mir vor, als verweilte ich viele Stunden dort, aber es hätten auch nur Sekunden sein können, bevor ich mit einem vagen Gefühl der Trauer wieder herabfiel … zurück an einen Ort, der unserer Welt so nahe war und doch nicht
zu
ihr gehörte. Wo ich das Land wieder sah – die von klaren Wasserläufen durchzogene Landschaft um Glastonbury.
Dann konnte ich durch die Haut der Felder, der Berge und der Wälder sehen, erblickte das Innere der Insel, all die Kammern und Gefäße, die durch den Fluss unterirdischen Wassers verbunden waren, eine tosende Kraft, das pumpende Herz der Erde. Gestützt vom Skelett der Hügel und den Gebeinen all der Heiligen, die hier bestattet lagen, das waren die Gebeine von Avalon …
… und ich wandte mich ab, und das Land begann zu tanzen und zu schwanken. Ich schaute Kreaturen aus Erde … einen Löwen und eine Taube … Fische, die im Gras schwammen. Die Erde drehte sich, und die Tiere versammelten sich in einem großen Kreis um mich herum.
«Wo bist du?»
«Ich fliege», antwortete ich.
«Komm»,
sagte sie.
«Vielleicht ist das zu viel für den Anfang.»
Als die Vision langsam verblasste und ich das Gewicht meines Körpers wieder spürte, überkam mich ein schmerzhaftes Bedauern. Doch dann hörte ich die alten, sanften Gesänge, wie geschmolzenes Gold flossen sie dahin, und ich sah die Abtei von oben, ein goldenes Geschmeide, das man dem Tor zu Füßen gelegt hatte.
Ein Paradies. Avalon.
Und ich hörte die sanft, aber deutlich hörbar gesprochenen Worte:
Alles hängt von Sonne und Mond ab. Die Sonne ist der Vater, der Mond die Mutter, und es ist so, dass die rote Erde von den Strahlen des Mondes und der Sonne genährt wird.
Die Sonne war in mir. Mein Kopf brannte wie die Sonnenkugel. Und der Mond …
… der Mond erwartete die Sonne.
†
Ich ging auf den Gipfel des Tors zu.
Was siehst du?
Den Himmel.
Und …?
Den Turm.
Gehe zu ihm. Leg deinen Arm in Brusthöhe um die Ecke, die dir am nächsten ist.
Ich öffnete meine Hand, und der Stein, den ich darin gehalten hatte, war verschwunden. Verschmelzung. Ein Schauer durchlief meine Arme, drang in meine Brust, und ich sprang zurück, aber diesmal stürzte ich nicht.
Diesmal nicht.
Ich wusste, dass der große, aufrecht stehende Stein, dessen Geist im Inneren des Turmes lebte, den Stein in meiner Hand wieder in sich aufgenommen hatte.
Und Stein und Turm waren nun ein Teil von mir, als ich den Hügel wieder hinabstieg, angelockt vom Rauschen des Wassers in der Blutquelle, die an seinem Fuße lag. Meine Kleider blieben Stück für Stück verstreut hinter mir zurück. Ich rutschte und stolperte den Hang hinab. Sie erwartete mich. Sie trug weder ihren Umhang noch ihr Ober- oder Unterkleid und war kaum mehr als zarter Dunst.
Weich. Das Gras, auf dem wir lagen. Ihre Lippen, ihre Brüste und ihr
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