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Die Gebeine von Avalon

Die Gebeine von Avalon

Titel: Die Gebeine von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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Heiligen hatten Visionen, wie es scheint.»
    «Ja, aber Visionen, die man nach der Einnahme eines Trankes hat … kann man
die
noch als heilig bezeichnen?», wollte sie wissen.
    «Ich weiß es nicht», antwortete ich. «Und das könnte durchaus schon wieder ketzerisch sein.»
    In der folgenden Stille schien es, als würde sich sogar der Regen zurückhalten. Oder es kam mir nur so vor, hier in unserem Allerheiligsten mit seinem goldenen Licht.
    Nel Borrow hielt das Fläschchen vor die Kerzen, und die Flüssigkeit darin nahm einen bernsteinfarbenen Ton an. «Wäre es nicht möglich, dass sich die Sinne durch die Wirkung der Kräuter erst für das Spirituelle
öffnen
?», überlegte sie.
    Die Flüssigkeit schimmerte rotgolden. Ihre Augen waren grün wie Smaragde. Es schien, als würde der Regen nun fast mahnend wieder an die Fenster klatschen, während sie das Papier nahm und damit Pulver in den kleinen hölzernen Becher füllte. Sie gab etwas Wasser hinzu und goss eine größere Menge in den Kristallpokal.
    Konnte man den Pfad zur Göttlichkeit durch ein paar Schlucke aus einem Pokal finden? Oder war es der Weg ins Höllenfeuer …
    Und was, gütiger Gott, fand man, wenn man sich in diesen funkelnden grünen Augen verlor?
     
    †
     
    Was dann geschah, erinnerte auf gewisse Art an die Messfeier, an deren Kraft ich im Geheimen noch immer fest glaube, denn sie ist ganz sicher eine uralte alchemistische Formel, die der reinsten Form der Transformation dient.
    Sie reichte mir den Pokal.
    «Es stammt aus der Blutquelle. Und das hier … solltet Ihr in der Hand behalten.»
    Es war ein Stein. Ein blassbrauner Kiesel, glatt wie aus einem Flussbett, ungefähr von der Größe eines Hühnereis.
    «Wozu dient er?»
    «Ich habe ihn im Turm auf dem Tor gefunden.» Mit dem Messer schnitt sie den Apfel in zwei Hälften. «Er wird Euch mit der Erde verbinden, Euch Halt geben.»
    Ich nickte, behielt den Stein in der Hand und hob mit der anderen den Pokal an die Lippen.
    «Wartet», bat sie.
    Als ich das Gefäß wieder absetzte, vergoss ich dabei ein wenig der Flüssigkeit über den Tisch.
    «Ihr habt Angst», sagte sie. «Eure Hand zittert.»
    «Nur wegen der Kälte.»
    «Es ist nicht gut, es zu einzunehmen, wenn man Angst hat.» Sie legte ihre Hand in meine. Ich erschauerte unter der Wärme ihrer Finger. «John … Ich glaube … Ich spüre, dass Ihr das nicht braucht. Ihr ausgerechnet solltet doch wissen, dass es andere Wege gibt. Denkt noch einmal darüber nach.»
    «Ich dachte, ich sei ein Mann, der zu viel nachdenkt?»
    «Was habt Ihr mir verschwiegen?», entgegnete sie.
    Ich wünschte mir so sehr, ihre Hand zu nehmen, aber ihr Gesichtsausdruck wirkte so ernst. Also tat ich stattdessen einen langen, schweren Atemzug und beschwor die bösen Erinnerungen herauf.
    «Ich leide unter Träumen», flüsterte ich. «Wiederkehrenden Träumen.»
    Weiter erzählte ich nichts. Ich erzählte ihr nicht von dem Feuer in meinen Träumen, das meine Arme und Beine wie Äste verkohlte. In diesem Moment fühlte ich mich, als wäre ich aus mir herausgetreten, aber nicht so, wie sie es beschrieben hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich vor ein paar Tagen einige Leute vor der Johanniskirche beobachtet hatte und es mir vorgekommen war, als führten sie nur ein Theaterstück auf. Und jetzt schien auch ich Teil dieses Stückes zu werden.
    «Seht mal …» Sie lehnte sich vor. «Es gibt da wirklich andere Mittel und Wege. Wir finden schon das Geeignete für Euch.»
    Sie griff nach dem Pokal, aber ich kam ihr zuvor, drehte mich um und trank ihn zur Gänze leer.
    Der Donner wurde leiser, aber vielleicht hatte der Sturm jetzt gerade erst angefangen.

XXX Ganz wie die Sonne
    I ch setzte mich ans Fußende des Betts, und wir redeten miteinander. Oder besser: Sie redete. Ich lauschte lediglich der weichen, traurigen Melodie ihrer Stimme, während sie erzählte, wie sich ihr Vater nach der Hinrichtung der Mutter in die Arbeit geworfen hatte. Jede Nacht ritt er los, um sich um die Kranken zu kümmern, und vermied es so, länger als unbedingt nötig in dem Bett zu schlafen, in dem seine Frau nie wieder liegen würde.
    Es war eine so schreckliche Tragödie, und mein Herz schmerzte so sehr, dass ich das Gesicht mit den Händen bedeckte und weinte.
    «Verdammt noch mal», murmelte Nel. «Wie schafft Ihr es denn, die alltäglichen Sorgen abzustreifen, Dr. John?»
    «Sorgen?» Ich wischte mir mit dem Ärmel die Tränen fort und zwang mich zu einem Lächeln.

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