Die Gebeine von Avalon
sie Schmerzen. Erst glaubte ich, sie starre mich an, doch nein, es war etwas hinter mir, ihr Blick fixierte es. Ich wollte mich nicht umdrehen und wartete deshalb darauf, dass sie wieder etwas sagen würde. Das tat sie aber nicht.
Ich hustete diskret.
«Euer Hoheit?»
Die Königin blinzelte.
«Gibt es Hasen in Eurem Obstgarten?», fragte sie schließlich.
«Ich … nein. Zumindest …» Lieber Himmel, mit wem hatte sie wohl gesprochen? «Hat Eure Hoheit einen Hasen gesehen?»
«Ich …
weiß
es nicht.»
Ich wurde nervös, denn ich hatte hier nie einen Hasen bemerkt. Weder in diesem noch im letzten Jahr. Und da, wo sie hinschaute, war … nichts.
Die Königin lächelte – es war jedoch ein hauchdünnes Lächeln, wie ein blasser Mond an einem kalten, dunstigen Morgen. Und der Hase …
Der Hase, wie der geneigte Leser weiß, gilt als Unglücksbote, wegen seines merkwürdigen Gebarens, weil er manchmal auf den Hinterbeinen steht und beim Kampf die Vorderpfoten einsetzt wie ein Mann seine Fäuste. Außerdem scheint er auf den Stand des Mondes zu reagieren.
Die Königin schüttelte leicht den Kopf, schluckte.
«Die Bücher», sagte sie knapp. «Ihr müsst –»
Sie unterbrach sich, weil Mistress Blanche Parry plötzlich neben uns auftauchte und wegen des durchdringenden Gestanks von fermentierendem Hopfen die Nase rümpfte – das Brauhaus stand keine hundert Schritte vom Obstgarten entfernt. Blanche musste die ganze Zeit in unserer Nähe gewesen sein, ohne dass die Königin und ich dies geahnt hatten.
«Nicht jetzt, John», sagte die Königin schnell. «Ihr müsst die Bücher zu mir bringen.»
«Selbstverständlich.»
«Wir werden zusammen speisen. Bald.» Sie brachte ein schwaches Lachen zustande. «
Falls
Eure Gesundheit es erlaubt.»
«Madam …» Blanche Parry dicht an ihrer Seite. «Wenn ich Euch erinnern darf, Ihr habt um drei eine Unterredung mit Sir William Cecil.» Blanche nickte mir kurz zu. «Dr. Dee.»
«Guten Morgen, Cousine», erwiderte ich.
Blanche runzelte die Stirn. Die Königin schüttelte leicht den Kopf. Ich sagte nichts, weil ich begriff, was hinter dieser Unterbrechung steckte.
«Wie schade.» Die Königin lächelte. «Ich habe eben gerade zu Dr. Dee gesagt, dass ich mir gerne noch die
Schule
angesehen hätte.»
Während ihres vorangegangenen Besuchs hatte sie den Wunsch geäußert, die Schule der Nonnen für die Kinder der Armen zu besichtigen, und später ihr Bedauern darüber ausgedrückt, dass ihr dafür nicht mehr genügend Zeit blieb. Sie schaute mich unter halbgesenkten Lidern an und bekräftigte damit stillschweigend, dass sie mich demnächst erwartete, dann wandte sie sich abrupt ab. Blanche Parry hingegen blieb noch einen Moment stehen, eine spindeldürre Frau von über fünfzig mit grauem Haar und strengem Gesichtsausdruck.
«Dr. Dee, Sir William wünscht,
Euch
ebenfalls zu sprechen.» Schaute mich nicht einmal an. «Morgen früh um zehn in seinem Stadthaus am Strand. Wenn es Euch genehm ist.»
Als ob auch nur die geringste Möglichkeit bestanden hätte, aufgrund meines hohen Studierpensums abzusagen. Ich nickte und überlegte, ob es dabei wohl um die Wachsfigur im Sarg ging. Von der Angelegenheit hatte ich nie wieder etwas gehört. Vielleicht hatte man ja doch verhindern können, dass die Königin davon Kenntnis erlangte. Ich hatte diskret ein paar Nachforschungen über Walsingham angestellt, aber niemand wusste, ob er in Cecils Diensten stand.
Reif glitzerte auf den dürren, winterlichen Zweigen der Apfelbäume, und ich fühlte das An- und Abschwellen unsichtbarer Gezeiten.
†
Ich rührte mich nicht, bis der letzte Kahn der königlichen Flotte hinter einer Biegung der Themse verschwunden war, dann erst ging ich hinein ins Haus. Ein Feuer aus aromatisch duftendem Apfelholz brannte im Kamin in der Eingangshalle. Ich hatte es selbst aufgeschichtet und entfacht, und meine Mutter hatte Scheite nachgelegt, für den Fall, dass uns doch noch die große Ehre widerfahren sollte. Ich ging am unberührten Gebäck vorüber und entdeckte schließlich meine Mutter, die ganz verloren in der kleinen Stube saß und durch die minderwertige, milchige Scheibe die Themse beobachtete. Im Sommer schützte sie uns vor dem Gestank des Flusses.
«Es tut mir leid», sagte ich.
Ich warf meinen Mantel über einen Stuhl, müde und niedergeschlagen.
«Früher hätte Mistress Blanche Parry mich begrüßt.» Meine Mutter wandte den Blick vom graubraunen Wasser ab, stand
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