Die Gebeine von Avalon
offensichtlich war dies ein großer Teil der Bibliothek, die Leland in der Abtei von Glastonbury in ehrfürchtigen Taumel versetzt hatte, als Richard Whiting dort Abt gewesen war.
Noch immer unkatalogisiert und in einem wilden Haufen. Niemanden schienen die Bücher hier zu kümmern, manche waren dick mit Staub überzogen und verschimmelten langsam. Ein veritables Gebeinhaus des Wissens.
Wegen all der Bücher bemerkte ich erst gar nicht, dass sich in diesem Raum auch noch verschiedene Möbelstücke befanden: Stühle und Wandschirme und Truhen. Ich öffnete die Truhe, die mir am nächsten stand, und fand darin zwei in Tuch eingeschlagene silberne Teller und einen Pokal mit Henkeln.
Bücher und Möbel und Gegenstände vom Altar.
Diese Dinge waren nicht gestohlen worden, damit jemand anderes sie für sich nutzen konnte. Das hier war ein Lagerhaus für die ganze Abtei.
Wusste Carew davon?
Seine Abtei, sein Besitz.
Unwahrscheinlich. Obwohl ich gut und gerne die nächsten fünf Jahre hier mit den Büchern hätte verbringen können, waren sie bestimmt lange nicht so faszinierend für einen ehemaligen Schwänzer, der gedroht hatte, sich lieber von der Stadtmauer in Exeter zu stürzen, als in die Schule zurückzukehren.
†
Welchen Weg ich danach einschlug, wusste ich nicht, und es kümmerte mich auch nicht. Ich stolperte durch Flure und Türen und Bögen, deren Mörtel kaum getrocknet zu sein schien. Wenn das hier je ein College werden sollte, besaß es nicht viel Ähnlichkeit mit jenen, die ich kannte.
Schließlich landete ich am Ende eines Gangs. Links und rechts befand sich jeweils eine Tür. Die linke hatte ein vergittertes Fenster. Die Zellen? Wahrscheinlich eher die Waffenkammer.
Hinter der rechten Tür lag ein kurzer, fast vollkommen dunkler Flur. Vorsichtig schob ich mich an der linken Wand entlang.
Stufen. Schmale Stufen, über die es nach unten ging, von dort ein sanfter Lichtschein.
Kam man hier zum Kerker? Wurden meine Phantasien nun wahr? Ich unterdrückte meine Aufregung. So leicht konnte es einfach nicht sein.
Während ich weiter hinunterstieg, war eine Stimme zu hören, wenn auch noch entfernt. Eine Stimme nur, wie ein leises rhythmisches Murmeln. Eine einzige Stimme, kein Gespräch, ein Mann, der sich an niemand anders wandte … als seinen Gott?
Latein, dachte ich, fast meine zweite Muttersprache und gewöhnlich Sprache des Gebetes.
Manchmal finden wir uns in einer Situation wieder, die von einer höheren Macht für uns genauso geplant zu sein scheint. Ich habe vielleicht schon früher hier von dem Gefühl berichtet, wie eine Schachfigur von unsichtbarer Hand übers Brett bewegt zu werden, ohne dass mir Regeln und Sinn des Spiels bekannt sind. Jetzt, da ich auf die Stimme zuging, empfand ich wieder so – als wäre mir das alles vorherbestimmt.
Ich näherte mich der einzigen Lichtquelle, bis ich einen gemauerten Bogen erreichte. Jenseits davon sah ich Kerzen auf einem Altar brennen.
In einer Nische darüber befand sich eine Marienstatue. Genau solche Statuen hatte man vor nicht allzu langer Zeit überall im Land aus den Kirchwänden gerissen. Davor kniete ein Mann.
Die Litanei, die er mit gesenktem Kopf und herabhängenden Armen herunterbetete, stammte nicht aus dem
Book of Common Prayer
. Sie war älteren Ursprungs, und er kannte sie auswendig.
Es war doch nicht Latein, sondern Französisch. Eine der weiteren Sprachen, die ich beherrschte.
Für eine Minute oder länger stand ich einfach nur da, beobachtete ihn, hörte zu. Und dann fühlte ich mich aus irgendeinem Grund veranlasst, diskret zu husten.
Der Mann erhob sich, recht langsam, und drehte sich zu mir um, ohne in seinem Gebet innezuhalten.
Ich hatte weder das Gebet noch seine Stimme jemals zuvor gehört.
Und das war auch nicht verwunderlich – bei einem Taubstummen.
LIII Im Nachtgarten
I ch verharrte regungslos.
«Frère Michel», sagte ich sanft.
«Qu’est-ce qui se passe?»
Er spähte zu mir herüber. Nachdem er die ganze Zeit in die Altarkerzen gestarrt hatte, konnte er sicher nur meine Umrisse erkennen, ich hingegen sah sein volles Gesicht genau: leicht hervorquellende Augen unter schweren Lidern, eine breite Unterlippe, ein spitzer grauer Bart.
Ich machte mir meinen momentanen Vorteil zunutze und erklärte ihm auf Französisch, wie entzückt ich sei, dass er offenbar durch ein Wunder die Sprache wiedergefunden habe und dass ich hoffte, es habe seinen berühmten seherischen Fähigkeiten nicht
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