Die Gebeine von Avalon
Breite, dergestalt ungeheuer, dass die Entfernung zwischen Brauen und Auge eine ganze Hand maß. Aber er war voller Wunden, die allesamt zu Narben verheilt waren, mit Ausnahme einer einzigen, die eine tiefe Kluft hinterlassen hatte und fraglos die Todesursache war.
Gerald war beim Fund der Gebeine vermutlich nicht zugegen gewesen, aber es schien doch unwahrscheinlich, dass er irgendetwas davon erfunden haben konnte. Es war ein Bericht, keine Geschichte. Die Gebeine waren ihm vorgeführt worden. Die Knochen existierten. Aber stammten sie tatsächlich von Artus?
Wenn es mir gelänge, ein paar der Knochen hierher mitzunehmen, um sie näher zu untersuchen, könnte ich vielleicht etwas über ihr Alter herausfinden.
Ich las die Inschrift des Kreuzes, das man über der Fundstelle der Überreste entdeckt hatte.
Hic iacet sepultus inclitus Rex Arturius in Insula Avalonia.
Hier liegt der berühmte König Artus auf der Insel Avalon begraben.
Kurz und bündig, aber ein wenig zu perfekt formuliert. Es wurde gemutmaßt, dass die Bezeichnung «König» zur Zeit der Bestattung für Artus noch nicht gebräuchlich war. Außerdem war die Inschrift in Latein verfasst, wo sie doch Alt-Walisisch hätte sein müssen, um vollends zu überzeugen.
Vielleicht war das Kreuz aber auch erst nach der Beerdigung auf irgendwelchen Wegen an seine Stelle gelangt, nicht zum Gedenken, sondern um den Platz zu markieren. Das war durchaus möglich. Alles war möglich.
Ich wollte einfach nicht glauben, dass es sich um eine Fälschung handelte. Doch die Anhaltspunkte, die dafür sprachen, konnte ich ebenfalls nicht von der Hand weisen.
Es sei denn, man befahl es mir.
Großer Gott, in was für eine Schlangengrube war ich da gestoßen worden. Ich wandte mich der weniger verlässlichen
Geschichte der Könige Britanniens
von Geoffrey von Monmouth zu, die auch von Artus’ letzter Schlacht mit seinem verräterischen Neffen Mordred berichtete. Geoffrey behauptete, diese hätte sich in Cornwall zugetragen, mit vielen Toten auf beiden Seiten.
Nach der Schlacht sei Artus zur Insel Avalon gebracht worden, um dort seine Wunden zu
heilen
.
Geoffreys Bericht ist sehr kraftvoll und mitreißend erzählt, aber jeder, der sich in Geschichte auskennt, weiß, dass er nicht sehr verlässlich ist. Immer wieder entdeckt man in seinen Texten Stellen, die er aus anderen Quellen übernommen hat – von Nennius zum Beispiel oder aus alten walisischen Balladen. Erzählungen, die vorher nicht mit Artus im Zusammenhang standen. Als wäre Artus ein Allzweckheld, den man zum Kampf gegen die Sachsen ausleihen konnte, gegen die Römer schickte oder wen auch immer sich der Auftraggeber des Schreibers als Gegner wünschte. Bei Malory waren das die Spanier, wenn ich mich recht entsinne.
Ich fuhr mit einigen französischen Manuskripten fort, frühe Übersetzungen von Geoffrey, und danach mit Wace’ Erzählung
Roman de Brut
, die sich im großen Ganzen an Geoffrey hält, aber – wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt – die Tafelrunde erwähnt, an der jeder Ritter einen gleichberechtigten Platz hatte. Die Geburtsstunde von Dudleys so geliebter Ritterlichkeit.
Danach nahm ich mir die vermutlich erste englische Erzählung vor, die in Worcester von einem Priester namens Layamon verfasst wurde. Sie handelte von Artus’ Tod und ist aus des Königs Sicht geschrieben.
Und ich werde nach Avalon reisen, zur anmutigsten Maid … der Schönsten aus dem Feenvolke, und sie wird meine Wunden stillen, auf dass ich wieder unversehrt sei durch ihre heilende Medizin, und dann werde ich in mein Reich zurückkehren und voller Freude beim Volke Britanniens weilen …
Und im Anschluss daran:
Die Briten glauben, dass er noch am Leben sei und in Avalon bei der Schönsten des Feenvolkes lebe, und sie warten auf seine Rückkehr. Es gibt unter den Sterblichen niemanden … der mit Sicherheit mehr darüber zu berichten wüsste. Doch ein weiser Mann mit Namen Merlin sagte einst in diesen Worten – und seine Worte waren wahr –, dass eines Tages ein Artus kommen werde, um den Engländern zur Seite zu stehen.
Man beachte die Formulierung:
ein
Artus. Als wäre Artus ein Gewand, das man anlegen könnte wie eine magische Rüstung.
Als ob Artus England geradezu verkörperte! Es lag auf der Hand, wovon Heinrich Tudor, der Großvater der Königin, sich hatte inspirieren lassen.
Erneut vernahm ich die Worte von Sir William Cecil:
Ihr seid ihr … ihr Merlin, sozusagen.
Diesem Anspruch konnte ich
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