Die Gebeine von Zora
sie ja noch einen ganzen langen Tag im Bett vor sich.
Am nächsten Tag tauchten Reith und Alicia mit unterdrücktem Gähnen zu einem erheblich verspäteten Frühstück auf. Marot hatte bereits gefrühstückt, und die anderen Mitglieder des sainianschen Haushalts waren schon seit Stunden auf den Beinen und gingen ihren diversen Pflichten nach.
Die drei Terraner machten einen Spaziergang durch Kubyab, die neugierig gaffenden Blicke der Dorfbewohner mit freundlichem Nicken erwidernd. Reith fühlte sich prächtig; er hätte in diesem Moment die ganze Welt umarmen können – mit ein paar Ausnahmen natürlich (Warren Foltz zum Beispiel). Sie trafen auch Doukh, der sich wort- und blumenreich für seine Flucht von der Walstatt entschuldigte.
»Ist schon gut«, beruhigte ihn Reith. »Wenn wir vernünftig gewesen wären, wären wir auch abgehauen. Aber auf dein Geld wirst du noch eine Weile warten müssen.«
An einem Grashalm kauend, schaute Doukh an Reith vorbei und sagte: »Dort kommt der Bákhpriester, mit dem Ihr gestern gesprochen habt.«
Erschrocken drehte Reith sich um. Tatsächlich! Ein Stück die Straße hinauf näherte sich schaukelnd Hochwürden Behorjs Sänfte, und dahinter ritt das priesterliche Gefolge. »In die Seitengasse!« zischte Reith. »Schnell!«
»Aber was …«, begann Alicia, als sie sich gepackt und in eine enge lehmige Gasse gezerrt fühlte.
»Keine Widerrede jetzt!« schnarrte Reith und bugsierte seine Gefährten die Gasse hinunter. »Da drüben, in den Schatten!« Er presste sich gegen eine Hauswand und spähte vorsichtig in die Hauptstraße. Von dieser Stelle aus konnte er die Straße recht gut übersehen, bei nur geringer Gefahr, selbst entdeckt zu werden.
Die Sänfte schaukelte vorbei. Dahinter, bewacht von der berittenen priesterlichen Eskorte, trotteten sechs gefesselte Gefangene. Einer davon war Warren Foltz. Alicia, die neben Reith stand, stieß einen unterdrückten Schrei aus.
»Psst, Liebes!« flüsterte Reith. »Je weniger die von uns wissen, desto besser.« Ausnahmsweise verzichtete Alicia auf Widerrede.
Als Roqirs rote Scheibe ihren Rand über eine flussabwärts stehende Baumgruppe schob, gingen die drei Terraner an Bord der Morkerád. Sie standen auf dem Bugdeck und schauten zu, wie die Fracht (Fellbündel, große Körbe mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Säcke voll Eisenerz) an Bord gehievt wurde. Zwei einheimische Träger schleppten den Sack mit den Bruchstücken von Marots Fossil an einer Tragestange den Laufsteg hinauf. Das Shaihan-Gespann, das das Boot flussaufwärts gezogen hatte, stand in einem Holzverschlag im Heck des Schiffes; eine leichte Westbrise wehte den Terranern den stechenden Geruch der Tiere in die Nase.
Als alles verstaut war, machten Kapitän Sarf und seine vier Flussbootmatrosen die Leinen los und stießen das Gefährt vom Landesteg ab. Zwei der Matrosen kletterten auf das Dach des Deckhauses und hissten das Dreieckssegel, während die anderen zwei das Boot mit Hilfe von Riemen in die Mitte des Flusses manövrierten, wo die Strömung am stärksten war.
Reith und Alicia blieben an der Reling stehen. Alicia hatte Reith untergehakt und hielt seinen Ellbogen umklammert, als fürchtete sie, dass, wenn sie ihren Griff lockerte, er über Bord fiele oder wie ein geflügeltes Insekt davonschwirren würde. Seit sie Sainians Gehöft verlassen hatte, hing sie an Reiths Ellbogen wie ein verschüchtertes, hilfloses kleines Mädchen. Reith, der wusste, dass sie alles andere war als das, fühlte sich gleichzeitig gerührt und belustigt.
»Sainian war ein großzügiger Gastgeber«, sagte Reith und schaute seine beiden Gefährten an. Wie Reith trug auch Marot den Kilt und die Jacke, die Sainian ihnen gegeben hatte; er hatte darauf bestanden, dass sie die Kleidungsstücke behielten. Alicia hatte ihr verführerisches Gewand weggepackt. Sie trug wieder ihre Khakikleider, die Babir wie die der Männer gewaschen und geflickt hatte.
»Ja, Darling«, sagte Alicia. »Der Junker ist ein Schatz, solange du auf seiner Seite bist. In dem Moment, da du mit ihm über Kreuz bist – krrrkh!« Sie fuhr sich mit der Handkante quer über die Gurgel.
Marot meinte: »Die Sitten in diesem Land unterscheiden sich sehr von unseren. Für die Leute hier ist es ungeheuer wichtig, dass man sein Wort hält und seinen Verpflichtungen nachkommt; dagegen ist ein Mord – wenn das das richtige Wort ist – offensichtlich nichts besonders Schlimmes. Insofern hatten wir nicht nur
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