Die Gebeine von Zora
Reith vermutete, dass ihre Häscher so schnell wie möglich aus qiribischem Gebiet heraus wollten. Sie trieben die Tiere unerbittlich an. Sie ritten fast ausschließlich im Galopp; nur gelegentlich gönnten sie den Tieren eine kurze Verschnaufpause, während der sie sich im Schritt vorwärtsbewegen durften. Sobald sie wieder zu Atem gekommen waren, spornten sie sie sofort wieder zum Galopp an. Unter Umgehung von Städten und vielbefahrenen Straßen schlängelten sie sich durch unwirtliche, menschenleere Regionen, meistens auf Wildpfaden oder über fast zugewachsene, seit langem nicht mehr von Menschen benutzte Wege. Reith vermutete, dass sie ihre Route sorgfältig geplant hatten, um Qirib keinen Vorwand für einen Krieg zu liefern.
Roqir ging unter. Der endlose Ritt ging weiter, wenn auch jetzt wegen der einbrechenden Dunkelheit nur noch im Schritt-Tempo. Alle paar hundert Meter tauchten am Wegrand brennende Laternen auf, die sie auf dem Hinweg zur Markierung ihrer Route angezündet hatten. Sie hatten wirklich an alles gedacht.
Etwa gegen Mitternacht – Reith konnte sich vor Erschöpfung und Hunger kaum noch im Sattel halten – schienen sie die Grenze endlich überschritten zu haben, denn sie gewannen jetzt offenes bebautes Land, bogen wenig später in einen breiten ebenen Weg ein und fielen in einen flotten Trab. Reith fand diese Gangart noch unbequemer als den Galopp, da der Sattel, der genau über dem mittleren Beinpaar seines Ayas lag, die Stöße, die jeder Schritt des Tieres hervorrief, gnadenlos an das Rückgrat des Reiters weitergab.
Nach einer Weile tauchte im Licht von zwei der drei Krishnamonde vor ihnen eine Häusergruppe zu beiden Seiten des Weges auf. Die meisten waren dunkel, doch aus einigen Fenstern drang das flackernde gelbe Licht von Kerzen oder Lampen. Ein paar Minuten später donnerten die Hufe der Ayas über die Bohlen der Zigros-Brücke. Die Reiter ritten in Zweierreihe über sie hinweg und erreichten das Südufer.
Die Kavalkade hielt an, und ihr Anführer beriet sich mit einer vermummten Gestalt. Danach kehrte er zurück, und die Reiter, die Reith und Marot bewachten, befahlen: »Steigt ab, Terraner, und folgt uns! Ihr werdet im Schulhaus schlafen.«
Reith war so müde und erschöpft, dass er alles nur noch wie durch einen Schleier wahrnahm. Als er und Marot mit Hilfe ihrer Bewacher aus dem Sattel gestiegen waren, standen sie minutenlang mit gekrümmtem Rücken in einer Art Affenhaltung da, unfähig, ihre völlig verkrampften Glieder zu strecken. Ermattet wankten sie zum Schulhaus. Als einige Minuten später einer der Bewacher mit einem Essenstablett kam, waren die beiden bereits auf dem Fußboden eingeschlafen.
Der Krishnaner, der am darauf folgenden Morgen das Schulhaus mit zwei Schüsseln heißer Suppe betrat, fand die beiden Terraner damit beschäftigt, unter Ächzen und Stöhnen Kniebeugen und Lockerungsübungen zu absolvieren. Verdutzt fragte er: »Was treibt ihr da, Terraner? Betet ihr zu irgendeinem terranischen Gott?«
»Ja«, antwortete Reith mit einem verschmitzten Grinsen. »Wir huldigen Herkules, dem Gott der Muskeln. Ah, ich sehe, Ihr bringt uns Essen! Ich habe solchen Hunger, dass ich glatt einen Aya mitsamt Haut und Knochen verzehren könnte. Wie weit ist es noch bis Jeshang?«
»So wir früh aufbrechen und den Tag hindurch reiten, müssten wir noch heute Abend den Großen Tempel erreichen.«
Wieder stöhnten Reith und Marot, diesmal einstimmig.
Roqir war gerade im Begriff unterzugehen, als Reith und Marot am Großen Tempel des Bákh abgeliefert wurden. Benommen vor Erschöpfung wurden sie von ihren Ayas gehoben und durch das riesige Eingangstor des marmornen Bauwerks bugsiert. Man führte sie durch endlose Korridore und Gänge, die von Fackeln in kupfernen Wandhaltern beleuchtet waren. In ihrem flackernden Licht spiegelten sich vergoldete Ornamente und Bilderrahmen; Wandgemälde zeigten Szenen aus dem Buch des Bákh.
An irgendeinem Punkt machte die Gruppe Halt, und anstelle der abenteuerlich gekleideten Häscher übernahmen jetzt die Tempelwächter in ihren schmucken schwarz-weißen Uniformen und Kettenhemden die Bewachung der beiden Gefangenen. Wenig später bogen sie in einen Korridor, der zu beiden Seiten von Zellenreihen gesäumt wurde. Ein Offizier schloss eine Tür auf; sie öffnete sich mit quietschenden Angeln, und Reith und Marot wurden in die Zelle gestoßen.
Ihr Gefängnis besaß zwei kleine vergitterte Fenster knapp unterhalb der Decke, durch
Weitere Kostenlose Bücher