Die Gebeine von Zora
frisch und erholt. Er machte ein paar gymnastische Übungen, um seine schmerzenden Muskeln zu strecken und seinen Kreislauf in Schwung zu bringen, und stürzte sich dann mit herzhaftem Appetit auf das von einem Wächter hereingebrachte Frühstück. Marot musterte ihn abschätzend und sagte:
»Fergus, du hast ein wunderhübsches Oeil poche – ihr sagt, glaube ich, schwarzes Auge, nicht?«
»Blaues Auge. Diese unsere Safari wird noch als die paläontologische Expedition der blauen Flecken in die Geschichte eingehen. So viele blaue Flecken wie in diesem letzten Monat habe ich in den letzten zehn Jahren zusammen nicht gehabt.« Er runzelte düster die Stirn. »Wenn mir jemand vor ein paar Jahren gesagt hätte, dass ich einmal versuchen würde, wegen einer Frau einen anderen Mann mit den bloßen Händen zu erwürgen, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Mir sind einfach sämtliche Sicherungen durchgebrannt …«
»Dann, mein Freund, kannst du jetzt vielleicht nachfühlen, was in Alicia vorgeht, wenn sie so aufbraust und sich zu irrationalen Handlungen hinreißen lässt.«
»Da hast du gewiss was Wahres gesagt«, erwiderte Reith. »Aber das Wissen, dass ich solche Schwächen habe, macht es mir auch nicht leichter, mit ihr zu leben.«
Der Hauptmann der Tempelgarde, der sie am Abend zuvor in ihre Zelle geführt hatte, trat in diesem Moment ein und dröhnte mit feuriger Autorität: »Guten Tag, Terraner! Gestern Abend ersuchtet ihr den Leutnant, eine Verschiebung der für heute angesetzten Anhörung zu erwirken, um Zeit zu gewinnen für die Erholung von eurem Ritte. Nun, die Hohepriesterin hat eurem Gesuch stattgegeben, erachtet sie es doch als ungerecht, wenn einer der Gegner in bester Verfassung ist, während der andere noch nach Atem ringt. Somit wird die Anhörung morgen zu dieser Stunde stattfinden. Möge der Bessere obsiegen!«
Der Hauptmann machte einen nicht unfreundlichen Eindruck. Reith vermutete, dass die Wächter erst den Ausgang der Verhandlung abwarten würden, ehe sie entschieden, welchen Gefangenen sie schikanieren und welchen sie lieber zuvorkommend behandeln sollten; immerhin war ja nicht auszuschließen, dass der freigesprochene Gefangene sich später an ihnen rächte. Er fragte den Hauptmann:
»Wäre es vielleicht möglich, dass wir uns baden und rasieren? Wir möchten doch mit dem einer solchen öffentlichen Veranstaltung gebührenden gepflegten Äußeren erscheinen.«
Er kratzte sich die kupferfarbenen Bartstoppeln, die auf Kinn und Wangen sprossen. Die Krishnaner, die, wenn überhaupt, nur sehr spärlichen Bartwuchs aufwiesen, fanden terranische Backenbärte abstoßend. Deshalb waren die Terraner auf Krishna darauf bedacht, stets glattrasiert aufzutreten, auch wenn Bärte auf Terra derzeit gerade einmal wieder in Mode waren. Der Offizier erwiderte:
»Ein Bad dürft ihr gern haben; aber was ist ›rasieren‹?«
»Das Gesicht mit einer Rasierklinge abschaben.« Reith kratzte sich erneut seine Bartstoppeln.
»Was ist eine Rasierklinge?«
»Ein sehr scharfes Messer, welches die männlichen Terraner zur Entfernung ihrer Gesichtshaare benutzen.«
»Nein; einen solchen Gegenstand haben wir nicht. Ich kann Euch aber eine Pinzette leihen; mit selbiger könnt Ihr die unliebsamen Stacheln ja herauszupfen.«
Reith seufzte. »Nicht sehr praktisch bei einem so dichten Bart wie dem meinen. Aber das Bad ist uns sehr willkommen.«
Frisch gebadet verbrachten Reith und Marot den Vormittag damit, alle denkbaren Fragen, die man ihnen stellen würde, zu sammeln und die bestmöglichen Antworten darauf zu diskutieren. Sie einigten sich darauf, dass – sofern man ihnen das erlaubte – Marot den Komplex Religion und Philosophie abdeckte, während Reith alle jene Fragen übernehmen sollte, die in irgendeiner Form die Aktivitäten der Terraner auf Krishna berührten. Anschließend nahmen sie sich gegenseitig ins Kreuzverhör, um ihre Schlagfertigkeit zu schärfen, und kritisierten gegenseitig ihre Antworten. Als Reith zu gähnen anfing und in seiner Konzentration nachließ, mahnte ihn Marot: »Das ist vielleicht langweilig, mein Freund, aber besser, als wie ein Hummer lebendig gekocht zu werden.«
Als das Mittagessen hereingebracht wurde, fragte Marot den Wärter: »Würdet Ihr bitte den Hauptmann fragen, ob wir wohl ein Exemplar des Buches des Bákh haben könnten? Wir dürsten nach spiritueller Erleuchtung.«
Kurze Zeit später erschien der Hauptmann mit einem Exemplar des Buches des Bákh unter dem Arm.
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