Die Gebeine von Zora
»Solange man noch lebt, gibt es immer noch Hoffnung; aber wenn wir uns jetzt von diesem Burschen den Kopf abschlagen lassen, dann ist alles vorbei. Wenn dann ein Rettungstrupp käme – und ich bin sicher, dass Alicia alles nur Erdenkliche tun wird, um einen in Marsch zu setzen –, wäre niemand mehr da, den sie retten könnten.«
Marot machte eine hilflose Geste. »Tu, was du für das beste hältst.«
Sie riefen den Dasht wieder herein. Reith sagte zu ihm: »So sehr wir Euer Angebot zu würdigen wissen, Hoheit, aber wir müssen es leider ausschlagen. Wir vertrauen auf Bákh, dass er im letzten Moment ein Wunder geschehen lässt, um uns zu retten.«
Kharob seufzte. »Ich habe getan, was in meiner Macht stand, um euer Leiden abzukürzen. Ich muss gestehen, Doktor Marot, dass ich tief beeindruckt war von Eurem Argument bezüglich der bildlichen Interpretation des Heiligen Buches. Wenn ich mir meiner Macht sicherer wäre … Aber was sein wird, wird sein.«
Roqir ging an einem klaren Himmel auf, als Reith und Marot in Handschellen auf einen Hof hinter dem Großen Tempel des Bákh getrieben wurden. Ein Holzfeuer brannte knisternd unter dem Kessel der Buße, und weiße Dampfwölkchen stiegen in den grünen Morgenhimmel. Reith schenkte dem monotonen Singsang der Priester, die ihre Gebete herunterleierten, kaum Aufmerksamkeit. Als die Vorbereitungen sich dem Ende zuzuneigen schienen, sagte Marot: »Dein Wunder sollte besser bald eintreten, Fergus. Ich glaube nicht, dass sich diese Präliminarien noch lange hinziehen.«
»Soll ich vielleicht mit einem Zauberstab wedeln und die Geister aus der Tiefe rufen?« fauchte Reith bissig. »Wenn ich das könnte, dann würden wir jetzt bestimmt nicht hier stehen … Was ist denn da los? Hör mal!«
Hinter dem Hof erhob sich ein Tumult, der rasch lauter wurde. Schreie erschollen, untermischt von Waffengeklirr.
Sekunden später platzte in den Hof ein Schwarm Reiter in den messingnen Brustharnischen und den scharlachroten Waffenröcken und Reithosen der balhibischen Kavallerie. Es waren Hunderte; einige von ihnen hatten bandagierte Wunden. In ihrer Mitte ritt eine Gestalt, die durch ihr Äußeres herausstach: eine schlanke blonde Erdenfrau mit zerzaustem Haar und in einem abgetragenen Khakianzug.
»Fergus!« schrie sie und sprang mit einem Satz von ihrem Aya. Sie schlang die Arme um Reith und drückte ihn überschwänglich. Reith konnte ihre Umarmung erst erwidern, als sie ihn losließ und er seine gefesselten Arme über ihren Kopf streifen konnte.
»Ich habe sie dazu gebracht, die gesamte Garnisonsschwadron von Jazmurian in Marsch zu setzen«, berichtete sie, noch immer schwer atmend. »Sie waren sauer wegen des Überfalls, und ich habe sie immer noch mehr aufgestachelt. An der Grenze mussten wir ein paar Köpfe einschlagen. Ach Fergus, mein Liebster!«
Während die beiden glücklich ineinander verschlungen dastanden, traten sich zwei Krishnaner gegenüber: der hochaufgeschossene Dasht und die stämmige Offizierin, die die Schwadron befehligte. »Madame«, schnaubte Kharob bad-Kavir, »was hat diese eklatante Verletzung des Hoheitsgebietes von Chilihagh zu bedeuten? Ich erhebe schärfsten Protest gegen diesen kriegerischen Übergriff! Wer seid Ihr überhaupt?«
»Major Kaldashi, Befehlshaberin der Zweiten Kavallerieschwadron in Jazmurian. Ich bin es, die hier schärfsten Protest erhebt, und zwar gegen die Verletzung des Territoriums der Republik Balhib durch eine Bande chilihaghischer Marodeure, die zwei terranische Passagiere aus dem Jazmurian-Majbur-Zug verschleppten. Dort sind sie!« Sie zeigte auf Reith und Marot. »Wir haben keinerlei Absicht, eure Souveränität in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen, mein Herr. Wir verlangen lediglich, dass Ihr uns die beiden Terraner unversehrt übergebt. Sobald dies geschehen ist, werden wir Euer Territorium auf dem schnellsten Wege verlassen, wobei ich hinzufügen darf, dass, hätten wir sie hingerichtet vorgefunden, Ihr mit ernsten Konsequenzen zu rechnen gehabt hättet.«
Der Dasht erwiderte: »Ich beuge mich der Übermacht. Ich werde meine Streitkräfte sofort anweisen, dass Ihr auf Eurem Rückmarsch aus dem Dashtat nicht behindert oder belästigt werden dürft. Ich werde Euch einen Offizier mitsenden, der die Befolgung dieses Befehls sicherstellt.«
Mit dem Anflug eines krishnanischen Lächelns in den Mundwinkeln stolzierte der Dasht davon, während die Offizierin zu Reith und Marot ging und sich nach ihren Erlebnissen
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