Die Geburt Europas im Mittelalter
Sodomie
Eine dritte Kategorie von Verfolgten und Ausgeschlossenen waren die Homosexuellen. Das Christentum hatte sich die Tabus des Alten Testaments, das die Homosexualität streng verurteilte, zu Eigen gemacht, und das Laster der Einwohner von Sodom wurde als sexuelle Abweichung interpretiert. Aber es scheint, dass die Sodomie zunächst einigermaßen toleriert wurde, besonders im monastischen Milieu. Im 12. Jahrhundert bekamen auch die «Sodomiter» den Wind der Reform zu spüren, umso mehr, als die Entwicklung des Naturbegriffs die sexuellen Sünden als Sünden wider die Natur erscheinen ließ und sie dadurch schwerer ins Gewicht fielen. Die Homosexualität wurde nicht nur mit harten Strafen belegt, sondern auch mit Schweigen, sie war das «unaussprechliche Laster». Oft wurde die Sodomie Männern vorgeworfen – von Lesbierinnen ist nurselten die Rede –, um sie in Verruf zu bringen oder sie den schwersten Strafen einschließlich der Todesstrafe zuzuführen. Muslime etwa wurden der Homosexualität bezichtigt oder auch Ritter-Mönche wie die Templer, die verurteilt und ausgemerzt wurden; ihr Ordensmeister, Jacques de Molay, starb Anfang des 14. Jahrhunderts auf dem Scheiterhaufen. Bei den Mächtigen dagegen wurde die Sodomie mehr oder weniger geduldet. So im Fall von zwei, vielleicht drei Königen von England, wenn denn, was nicht erwiesen ist, auch Richard Löwenherz homosexuell war. Erwiesen scheint es für Wilhelm den Roten (1087–1100) und vor allem für Eduard II. (1307–1327). Der letzte allerdings wurde erst entthront und dann mit seinem Günstling ermordet.
Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts blieb die Verfolgung der Sodomie wie vieler anderer Unzuchtsdelikte der Inquisition überlassen. Eine mehr oder weniger große Zahl Homosexueller endete auf dem Scheiterhaufen. Aber hier und dort tauchte ihnen gegenüber wieder eine tolerantere Haltung auf, vor allem im 15. Jahrhundert und hauptsächlich in Italien, insbesondere in Florenz.
Das doppelte Gesicht der Lepra
Es mag verwundern, seit dem 12. Jahrhundert als vierte im Bunde der Verfolgten und Ausgeschlossenen die Aussätzigen zu finden. Die Haltung der mittelalterlichen Christen gegenüber den Leprakranken schwankte. Das Bild von Jesus, der die Aussätzigen küsst, belastete ihr Verhalten. Verschiedene Heilige erwarben sich großen Ruhm ob ihrer Nachfolge Christi, indem sie Aussätzige speisten und ihnen bei dieser Gelegenheit einen Kuss gaben. Das berühmteste Beispiel ist Franziskus von Assisi, aber auch Ludwig der Heilige machte sich darum verdient. Die Lepra scheint sich erst ab dem 4. Jahrhundert im Abendland verbreitet zu haben. Die Aussätzigen waren also einerseits Gegenstand von Nächstenliebe und Barmherzigkeit, andererseits erweckten sie jedoch physischen und moralischen Abscheu. In dieser Gesellschaft, die den Körper für das Bild der Seele hielt, erschien die Lepra als Zeichen der Sünde. Der Lepröse spielt eine abstoßende Rolle in der höfischen Literatur. Man denke nur an dieschreckliche Episode, in der sich Isolde unter Aussätzigen wiederfindet. Die mittelalterlichen Menschen waren überzeugt, die Leprösen seien sichtbare Kinder der Sünde, von Eltern gezeugt, die sich nicht an die vorgeschriebenen Zeiten, in denen Geschlechtsverkehr verboten war, gehalten hatten. Gegen die Aussätzigen kam voll zum Zuge, was Michel Foucault als «die große Gefangenschaft» beschrieben hat. Seit dem 12. Jahrhundert mehrten sich spezielle Aussätzigenhäuser, in denen sie eingeschlossen wurden, die Leprosorien. Theoretisch handelte es sich dabei um eine Art Krankenhäuser, aber in Wirklichkeit waren es Gefängnisse außerhalb der Städte, an Orten, die den Namen ihrer Schutzheiligen, Magdalena, trugen, und die sie nur selten verlassen durften. Sie mussten dann den gesunden Christen durch Geräusche einer Klapper bedeuten, sich von ihnen fern zu halten. Aussatz war die typische Krankheit des mittelalterlichen Europa, befrachtet mit Symbolen, ein Sinnbild des Schreckens. Die Angst vor den Aussätzigen kulminierte zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Vorwurf der Brunnenvergiftung. Danach scheint die Lepra im Abendland schnell abgeflaut zu sein, die Pest nahm an ihrer Stelle den ersten Platz der symbolträchtigen Krankheiten ein.
Der Teufel geht um
Am Ende bildeten all diese verschiedenen verseuchten Geschöpfe eine Gegengesellschaft, die den guten und gläubigen Christen als Bedrohung für die Reinheit und das Heil erschien. Als ihr gemeinsames
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