Die Gefährtin des Medicus
gesehen?«, schrie sie die Menschen an, die ihren Weg kreuzten, und beschrieb das Kind eindringlich. Unmöglich, dass Roselina nicht auffiele, mit ihrem blassen Gesicht, ihren dunklen Augen und ihrem weißen Kleid. Das weiße Kleid, auf dessen Sauberkeit Marguerite so viel Wert legte! Alaïs mochte sich deren Vorwürfe gar nicht ausmalen – die Kleine sich selbst überlassen zu haben, nicht einfach vor Giacintos Haus, sondern inmitten der Stadt, die selbst an einem heißen Tag wie heute viel zu lebhaft pulsierte, viel zu schnell ihrAntlitz wechselte, um einem Kind jemals ein vertrauter Ort zu sein.
»Roselina!«, schrie sie wieder. Die Menschen begegneten ihr abweisend, mitleidig oder gleichgültig. Niemand hatte ein Mädchen wie Roselina gesehen.
Ihre Unruhe wuchs, nicht nur aus Angst um das Mädchen, sondern auch, weil der Gedanke, was mit Aurel und Emy geschah, wieder aufflackerte. Sie verdrängte ihn, sagte sich, dass sie keinen Schritt mehr gehen könnte, würde sie sich allen Sorgen gleichzeitig stellen.
»Roselina!«, rief sie wieder.
Dort hinten, vor einer der Lagerhallen, standen mehr Menschen beisammen als anderswo. Offenbar gab es etwas Außergewöhnliches zu beobachten. Alaïs trat näher, sah, dass das Gebäude der Lagerung von Wein diente. Eben wurden Fässer über die Straße gerollt und schließlich auf einen Wagen gehoben.
Alaïs stürzte auf einen der Männer zu. »Habt ihr ein kleines Mädchen gesehen?«
Er starrte durch sie hindurch, schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen. »Sind alle leer«, murmelte er mit Blick auf die Fässer. »Müssen nun fortgeschafft werden.« Er deutete auf einen anderen Karren, auf dem gleichfalls Fässer standen – diese allerdings randvoll gefüllt, um abgeladen und in Richtung des nunmehr geräumten Hauses gerollt zu werden.
»Griechischer Wein«, erklärte der Mann, obwohl Alaïs es gar nicht wissen wollte. »Robert von Neapel hat dem Papst zwanzig Fässer davon geschenkt. Jetzt muss er rasch getrunken werden, denn Wein ist ein leicht verderbliches Gut, hält kaum länger als das Jahr, in dem er gelesen und gekeltert worden ist.«
»Habt ihr ein kleines Mädchen …?«, setzte sie wieder an – und kam nicht weiter.
»Alaïs!«, rief ein schwaches Stimmchen.
Sie fuhr herum und sah auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse Roselina stehen. Ihr weißes Kleid war noch sauber. Sie achtete auch jetzt darauf, nirgendwo entlangzustreifen, richteteihren Blick jedoch neugierig auf die vielen Fässer. Die Erleichterung machte Alaïs’ Beine zittern, doch sie zeigte sie nicht, sondern schritt nörgelnd auf das Mädchen zu.
»Roselina, ich sagte doch, du solltest dort bleiben, wo du …«
Diesmal unterbrach sie nicht die sanfte Mädchenstimme, sondern ein lautes Gerumpel. Sie fuhr herum, sprang unwillkürlich zurück. Einen Strick hatte man um jene leeren Fässer gebunden, die bereits auf dem Karren lagerten, doch nun, da man eine zweite Schicht darüberstapelte, erwies sich der Knoten als nicht ausreichend fest gebunden. Das erste Fass flutschte förmlich hindurch und fiel krachend auf den Boden, wo es in zwei Teile zersprang.
Morsche Fässer, wenn das Emy wüsste, dachte Alaïs. Doch in diesem Augenblick verstärkte sich das Gerumpel schon. Ein weiteres Fass, dann zwei, drei rollten vom Karren, zersprangen nicht, sondern kullerten über die Straße, die einen in die eine, die anderen in die andere Richtung. Alaïs stieß einen spitzen Schrei aus, als eines mit voller Wucht gegen sie knallte. Ein stechender Schmerz breitete sich von ihrem Schienbein aus. Auch weitere Umstehende schrien, als sie auseinanderstoben, um den Fässern zu entkommen. Da der Wagen in leichter Schieflage stand, wurden es immer mehr. Die Fässer folgten hintereinander, nebeneinander, übereinander und stießen schließlich an Hauswänden an.
Das Fluchen der Männer wurde zu einem Rauschen, als sich Alaïs, die sich eben noch das schmerzende Bein rieb, zu Roselina umdrehte. Sie stand an der gleichen Stelle wie eben, nur etwas steifer, mit schreckgeweiteten Augen. Einem erwachsenen Menschen mochten die Fässer bis zur Hüfte reichen, das Mädchen hingegen war kaum größer als ein solches.
Mit ungebremster Wucht rollten gleich zwei auf Roselina zu.
»Gib acht!«, schrie Alaïs.
Obwohl es geheißen hatte, sie seien leer, sprühte das eine einen roten Weinregen. Sie sah, wie sich Roselinas weißes Kleid verdunkelte, dann war der Blick auf das Mädchen von berstendem Holz
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