Die Gefährtin des Medicus
verstellt.
Roselinas Blut war warm. Es sprudelte aus der Wunde, versickerte zuerst in ihrem weißen Kleidchen und saugte sich dann in Alaïs’ Kleidung, die das Kind hochgehoben hatte. Ohne nachzudenken, war Alaïs mit der Verletzten losgerannt und lief nun über die Brücke. Die Menschen wichen zurück und verstummten. Alaïs vernahm nur Wortfetzen:
Hast du das gesehen … die Fässer … das Kind hat’s getroffen … ein Splitter hat es durchbohrt … das wird nichts mehr … es sieht schon aus wie tot.
Aber sie ist nicht tot, wollte Alaïs ihnen entgegenschreien, ich höre doch, wie ihr Herz pocht …
Womöglich war es jedoch nur das eigene oder das des Mannes, der ihr folgte. Sie kannte sein Gesicht nicht, aber von seinem Weingeruch her schloss sie, dass er zu den Männern zählte, die die Fässer entladen hatten und die Schuld an dem grässlichen Unglück trugen. Sein Mund war geöffnet, er rief ihr etwas zu, aber sie konnte ihn so wenig verstehen wie die übrigen. Wahrscheinlich schlug er vor, an ihrer statt Roselina zu tragen – aber ihre Hände umkrampften das leblose Kind, dessen Gesicht so weiß war wie einst sein Kleidchen, das sich inzwischen dunkelrot verfärbt hatte.
Obwohl sie ihn nicht helfen ließ, blieb der Mann an ihrer Seite, bis sie Giacintos Haus erreichten. Die Menschen, denen sie nun begegneten, kannten Marguerite und auch ihr Kind, von dem sich nie genau sagen ließ, ob es lieblich war oder sonderbar, ob hübsch anzusehen, weil es immer sauber gekleidet war, oder befremdend, weil so viele dunkle Adern durch die weiße Haut traten. Auch die Menschen hier schienen sich etwas zuzurufen, doch den einzigen Laut, den sie vernahm, war Marguerites Schrei.
Wie zuvor der Mann versuchte sie, Alaïs das Kind zu entreißen, und diesmal verkrampfte sich Alaïs nicht, sondern überließ es willig der Mutter.
Der Körper war warm, dachte sie, und wenn er warm war, musste sie noch leben. Allerdings, und das ging ihr auf, während der Mann neben ihr erzählte, was geschehen war, mochte auch nur mehr das Blut warm gewesen sein, nicht der Leib.
Der Mann brachte keine klaren Worte zustande, stammelte wirr von einem Missgeschick: Die Fässer auf dem Wagen seien nicht ausreichend befestigt gewesen, das Kind habe ihnen im Weg gestanden.
Marguerite hörte zu schreien auf. Sie war auf den Boden gesunken, hielt Roselina an sich gepresst und legte sie dann vorsichtig nieder, ungeachtet des Unrats und des Drecks. Ganz dicht beugte sie sich über das Antlitz ihrer Tochter.
»Sie atmet!«, sagte sie. Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Sie atmet noch!«
Alaïs’ Blick blieb nicht beim Gesicht des Mädchens hängen, sondern glitt tiefer. Sie nahm nun wahr, was die aufgeregte Stimme des Mannes schon verkündet hatte: Ein Splitter des Fasses hatte Roselinas Leib durchbohrt. Er steckte immer noch darin, gleich einem Pfeil.
Alaïs sackte auf die Knie. »Es tut mir leid«, stammelte sie, »es tut mir leid, aber …«
Marguerite sah sie an und blickte doch durch sie hindurch.
»Aurel«, erwiderte sie, und diesmal geriet ihre Stimme befehlend. »Du musst sofort Aurel Autard herbringen!«
Wieder wichen die Menschen beiseite, als sie zurückhastete, diesmal nicht, weil sie ein verletztes Kind trug, sondern weil sie über und über mit Blut befleckt war. Sie ging wie im Traum, einzig dankbar, dass sie diesen Weg oft genug genommen hatte. Ihr Hals schmerzte, so sehr hatte sie sich beim Atmen verkrampft. Sie lehnte sich an den Türrahmen aus schwerem, dunklem Eichenholz, verschnaufte – und hörte schließlich aufgebrachte Stimmen.
Als sie die Tür öffnete, fiel ihr wieder ein, dass dieser Tag noch mehr an Unglück bereitgehalten hatte. Dass sie Aurel nicht einfach holen und zu Roselina bringen könnte, weil dieser selbst in großer Gefahr schwebte.
Das zumindest versuchte ihm Emy eben begreiflich zu machen, während er mit raschen Handgriffen ihren Besitz in Kisten und Ledersäcken verstaute.
Aurel verfolgte seine Bewegungen mit verwirrtem Blick. »Was ist denn passiert?«, fragte er ein ums andere Mal. »Wieso muss ich Avignon verlassen?«
»Wir haben keine Zeit. Womöglich haben sie den finsteren Plan schon beim Mittagessen umgesetzt.«
»Welchen Plan?«, murrte Aurel. »Was zum Teufel redest du?«
»Kannst du dich an den Franziskaner erinnern? Und an den Deutschen? Wobei … als wir mit Letzterem zusammentrafen, warst du gar nicht dabei. Sei’s drum. Das macht keinen Unterschied. Dass er mich
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