Die Gefährtin des Medicus
erweisen.
»Warum … warum hast du Aurel geschlagen?«, fragte sie bebend.
Er ließ sich neben ihr im Sand nieder, schien lange um eine Antwort zu ringen. Jene fiel schließlich knapp aus. »Ich war glücklich in Avignon.«
Erstmals ging ihr auf, dass es nicht nur ihr gelungen war, sich in der Stadt des Papstes ein Leben zu schaffen, das nicht allein von Aurel bestimmt war. Sie mochte in ihren durchtanzten Nächten Freude gefunden haben – er in seiner Verantwortung als Einkäufer des päpstlichen Hofes, die so viel weiter reichte als die Aufgabe, nur für seinen Bruder, später auch für sie zu sorgen.
»Ich war glücklich in Avignon«, wiederholte er. »Ich war damals auch glücklich in Montpellier. Ich habe als Pferdeknecht geschuftet, damit wir ein Dach über dem Kopf hatten und genug zu essen, und wenn es auch ein einfaches Leben war, so stand fest, was ich zu tun hatte und was Aurel. Das dachte ich zumindest. In Wahrheit hat er nicht nur studiert, sondern sich Feinde gemacht – so wie er sich überall Feinde macht. Weil er den Mund nicht halten kann. Weil er sich nicht begnügt, irgendwo Zweiter zu sein. Weil er nicht höflich ist, nicht aufmerksam, nicht fähig, sich anzupassen.« Er machte eine kurze Pause, in der die Bitterkeit seiner Worte nachklang. »Ich war glücklich in Avignon«, sagte er ein drittes Mal.
»Was geschehen ist … das kannst du doch nicht ihm anlasten … nicht ihm allein.«
»Kann ich nicht?«, fuhr er auf, und sie war nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Sie hatte die Verschwörung von Avignon gemeint, doch sein flackernder Blick – das Mondlicht leuchtete ausreichend, um ihn wahrzunehmen – bezeugte, dass er wohl an das dachte, was Aurel und sie in der Grotte getan hatten.
»Ich dachte, du lebst dafür, dass du deinen Bruder vor sich selbst beschützt. Er hat dir eine Fingerkuppe abgehackt – hast du nicht gesagt, du wolltest verhindern, dass irgendwann eine ganze Hand draus wird?«
Emy senkte die verstümmelte Hand, vielleicht, um sich den einstigen Schmerz in Erinnerung zu rufen.
»Im Augenblick scheint es mir, dass du mehr Schutz brauchst als er.«
Eine neue Woge der übelkeit erfasste Aläis. Am liebsten hättesie ihm vor die Füße gespien, aber dann erhob sie sich plötzlich und stapfte davon. Leise wie immer folgte er ihr.
»Hast du denn kein Rückgrat, Emy?«, fauchte sie. »Immer warst du der Diener deines Bruders – und jetzt willst du gar seinen Bastard großziehen?«
Er streckte seine Hand aus – es war die heile. Alaïs duckte sich. Unerträglich war es ihr, sich von ihm berühren zu lassen, unerträglich die Erinnerung daran, wie sie ihren Kopf in seinen Schoß gelegt hatte. Allein der Gedanke an diese Vertraulichkeit trieb Schamesröte in ihr Gesicht – weil sich nicht nur die Erinnerung an Emys unaufdringliche Gegenwart damit verknüpfte, sondern dieser hastige, schmerzvolle, unbequeme Akt zwischen ihr und Aurel.
»Wenn wir heiraten, dann ist das Kind kein Bastard«, sagte er leise. Er ließ seine Hand wieder sinken.
Alaïs blieb stehen, und das Leben, das vor ihr aufragte, deuchte sie ebenso felsig und öde und stinkend wie die Grotte, in der sie bei Aurel gelegen war.
»Schämst du dich nicht, Emy, dass du stets tust, was er sagt, anstatt eine eigene Entscheidung zu treffen?«
Wieder wich er ihrem Blick aus, diesmal nicht, um auf die fehlende Fingerkuppe zu starren, sondern hinaus aufs schwarze Meer.
Sie konnte den Gedanken, den er spann, nahezu hören.
Du tust es doch auch. Du lehnst dich doch auch nicht auf.
»Es ist jämmerlich, so schwach zu sein«, murmelte sie, nicht sicher, ob sie ihn oder sich selbst meinte.
Fünfter Teil
Die Insel hinter dem Horizont
Frühjahr 1328
----
XXIV. Kapitel
----
Wieder in Saint – Marthe zu leben, war wie in alter Kleidung zu stecken. Verblichene Fettflecken erinnerten an Mahlzeiten, die lange vorbei waren, der modrige Geruch gemahnte daran, dass die Kleidung lange Zeit in Truhen verrottet war. Hier und da kniff sie, weil man größer oder runder geworden war. Vertraut fühlte sich alles an und zugleich so alt. Das Verjährte hielt warm – aber der Wunsch nach Frischem, Sauberem ließ niemals nach. Alaïs trug das alte, neue Leben so steif, als könnte sie solcherart verhindern, mehr damit in Berührung zu kommen, als unbedingt nötig. Sie suchte, wann immer es möglich war, jenen einzigen Ort auf, den es früher noch nicht gegeben hatte – das hieß, es hatte ihn zwar
Weitere Kostenlose Bücher