Die Gefährtin des Medicus
nicht zu erreichen. »Kann es sein … kann es sein, dass du ein Kind bekommst?«, fragte er.
Zum ersten Mal seit langem suchte sie seinen Blick. Er aber senkte den seinen. Eine sachte Röte überzog sein eckiges Gesicht.
Seit wann er es wohl wusste?, fragte sie sich. Und wusste es auch Aurel?
In den letzten Wochen war er kaum mehr als ein Schatten seiner selbst gewesen, immer da, aber immer unauffällig. Es war ihr recht gewesen, dass er kaum sprach, nicht an die Scham rührte, die in ihr aufstieg, wann immer ihr Blick seine Gestalt streifte. Erst jetzt ging ihr auf, wie ungewöhnlich sein Schweigen war. Kein Lob auf seine eigenen Fähigkeiten war ertönt, kein Wort der Hoffnung auf eine große Zukunft. Ob jene ihn ebenso blass deuchte wie sie die eigene?
»Was soll ich denn jetzt tun?«, stammelte sie.
Emy legte ihren Kopf sanft auf den Boden. Die Röte war aus seinem Gesicht geschwunden, seine Lippen waren schmal geworden.
»Ich werde mit Aurel sprechen.«
Aurel näherte sich ihr schweigend. Sie saß am Feuer, das Emy an einem jener Rastplätze entlang der Küste entzündet hatte. Das Holz knisterte und spuckte kleine Tröpfchen Meerwasser, die sich darin festgesogen hatten. Verlegen rang er mit den Händen.
»Komm mit!«, sagte er schließlich.
Sie fragte sich, wohin er sie locken wollte und warum, gewahrte dann aber, dass Emy nicht weit von ihnen hockte. Offenbar wollte er verhindern, dass der Bruder ihm zuhören konnte.
Langsam stand Alaïs auf, ihr Kopf drehte sich, ihr Magen verkrampfte sich wieder. Sie folgte Aurel einige Schritte über den klammen Sandstrand. Als sie zurückblickte, sah sie die Spuren ihrer Füße.
»Was willst du von mir?«, fragte sie.
Aurel streckte einfach nur seine Hände nach ihr aus. Kurz vermeinte sie, er wollte sie umarmen, ungelenk und steif, wie es seine Art war, und die Rührung darüber war so stark, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Ehe sie freilich über die Wangen liefen, stellte sich heraus, dass Aurel sie nicht umarmen wollte, sondern ihren Bauch abtastete, dann ihre Brüste. Seine Augen waren so ausdruckslos wie immer, wenn er einen Kranken untersuchte, nur seine Wangen waren flammend rot und verrieten seine Verlegenheit.
Sie ließ es über sich ergehen. Die Tränen versiegten. Seine Berührungen waren ihr fremd, besonders an vertraulichen Körperstellen. Es war, als hätte sie nie bei ihm gelegen.
Irgendwann trat er schweigend von ihr fort, ging zurück zum Feuer und zu Emy, nein, eigentlich rannte er förmlich. Die Spuren, die er im Sand hinterließ, waren diesmal viel tiefer. Sie sah, dass er etwas zu seinem Bruder sagte.
Emy erhob sich ganz langsam, hielt den Kopf immer noch gesenkt. Er schüttelte den Sand ab, ehe er sich seinem Bruder zuwandte, seine Lippen bewegte, ihm offenbar eine Frage stellte. Sie wollte zu ihnen gehen, aber konnte es nicht. Ein unsichtbarer Bannkreis schien sich um die beiden Brüder gesponnen zu haben. Obwohl sie so ruhig voreinander standen, fühlte sie förmlich die Spannung, die zwischen ihnen herrschte und die sie sich nicht recht erklären konnte.
Auf Emys Frage hin nickte Aurel schließlich.
Und dann – Alaïs stieß einen entsetzten Schrei aus, als sie es sah – hob Emy seine Hand und schlug Aurel ins Gesicht, so fest, dass jener wankte und zu Boden ging.
Alaïs wusste später nicht mehr, wie lange sie an jener Stelle verblieben war, wo Aurel sie untersucht hatte. Nachdem er sich wieder erhoben hatte und Emy keine Anstalten machte, noch einmal zuzuschlagen, hatte sie sich rasch abgewandt, war zu einem der spitzen, weißen Steine getreten und hatte sich daneben auf einem Bett halb getrockneter, halb fauliger Algen niedergelassen.
Was immer zwischen den beiden Brüdern vorging, sie hatte das Gefühl, es sei ebenso respektlos, sie zu mustern wie einen nackten Menschen, der sich nicht ausreichend bedecken kann.
Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Sie dachte daran, was Emy ihr so oft von seinem Vater erzählt hatte – dass jener Aurel häufig geschlagen hatte und er ihn nicht selten davor bewahrt hatte. Nun hatte er selbst zugeschlagen.
Das Licht war so diesig, dass die ferne Grenze zwischen Meer und Himmel verschwamm. Selbst als sie unterging, blieb die Sonne blass. Ihr Licht war ebenso kalt wie das des Mondes.
Als der Himmel grau und das Meer vor ihr schwarz wurde, trat jemand zu ihr. Es war Aurel. Seine rechte Wange war rötlich verfärbt. Sein Kiefer schien ihm zu schmerzen, er rieb seine Zähne
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