Die Gefährtin des Medicus
Marseille?«, hörte sie Aurel hinter sich fragen.
Dulceta antwortete nicht, hatte ihn entweder nicht gehört oder wollte ihn nicht hören.
»Alaïs, bitte komm! Du musst ihn dir anschauen!«
Alaïs fand die Stimme wieder, doch sie sprach nicht mit Dulceta. Sie trat zu Aurel. Wieder fielen ihr die toten Ratten ein, die sie auf den ersten Blick für Erdklumpen gehalten hatte.
»Was hast du über uns gebracht?«, schrie sie ihn an. »Was hast du nur über uns gebracht?«
Er zuckte die Schultern. »Es ist doch lange vor mir zu euch gekommen …«
Dulceta beschrieb ausführlicher, woran Pierre litt.
»Er hat Fieber und schreckliches Kopfweh. Er krümmt sich nahezu vor Schmerzen. Sein Hemd ist schweißnass, er hat großen Durst, und …«
»Ja?«, fragte Alaïs, da Dulceta nicht fortfuhr. Sie hatten ihre Kate noch nicht verlassen. Alaïs wähnte sich unfähig, auch nur einen Schritt zu machen.
»Bitte«, stammelte Dulceta. »Bitte … Alaïs. Aus seinem Gesieht starrt mich der Tod an, aber du hast ihn doch schon einmal gerettet. Erinnerst du dich?«
Wie hätte sie ihn vergessen können – jenen Tag, als sie in Saint – Marthe noch wie eine Aussätzige behandelt worden war, sich dann jedoch den Respekt der Dorfbewohner verdient hatte, indem sie Pierres zerrissene Gedärme flickte.
»Woran leidet er noch?«, fragte sie, weil all das bislang Genannte Dulcetas Entsetzen noch nicht erklärte.
Tatsächlich neigte sie nun verschwörerisch den Kopf vor. »Ich weiß nicht, wie ich es dir beschreiben soll, aber er hat rote Flecken …«
»Wo?«
Nicht Dulceta antwortete ihr, sondern Aurel. Sie hatte kaum bemerkt, dass er zu ihnen gehumpelt war. Obgleich Dulceta den letzten Satz nur geraunt hatte, hatte er ihn gehört.
»In den Achselhöhlen«, sagte er, »und wahrscheinlich in der Leistengegend. Es werden keine Flecken bleiben. Es werden Beulen daraus werden. Sie werden sich bläulich verfärben und schließlich schwarz anlaufen.«
Ähnlich wie eben schüttelte er den Kopf, und wieder lachte er. Speichel sprühte von seinen Lippen, und als Alaïs ihn diesmal betrachtete, ging ihr auf, dass er ihr nicht nur unglaublich fremd war, er nichts mehr mit dem stolzen, herausfordernden Aurel von einst zu tun hatte, sondern dass er unsagbar alt geworden war. Nicht nur das ergraute Haar bekundete es, nicht nur das gefurchte Gesicht. Nein, noch etwas kam hinzu, wogegen sie sich selbst immer zu wehren versucht hatte: jene Bitterkeit, mit der das schwindende Leben das frische betrachtet und ihm die Weite seiner Zukunft neidet.
»Hör auf!«, fuhr sie ihn an. »Hör sofort auf!«
Aureis Lachen verstummte, was sie noch mehr verstörte. Früher hätte er sich nicht so schnell gefügt. Früher hätte er ihr getrotzt, so wie er jeglicher Krankheit getrotzt hätte.
Stattdessen erklärte er hoffnungslos: »Für den Mann gibt es keine Rettung.«
Dulceta musterte ihn verständnislos. »Wer ist das?«, flüsterte sie Alaïs zu.
»Er ist der Mann, der der größte
Cyrurgicus
seiner Zeiten sein will und der jetzt nicht einmal mehr ein Fieber heilen kann«, stieß Alaïs bitter hervor. »Ich komme mit und sehe ihn mir an!«, fügte sie hinzu und trat entschlossen vor die Tür.
Aurel humpelte ihr kopfschüttelnd nach. »Hast du nicht verstanden? Dieser Mann ist dem Tod geweiht. Wie wir alle. Wie wir alle.«
Er sagte es wieder und wieder, und mit jedem Mal wuchs Alaïs’ Wut auf ihn. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
»Verdammt, warum willst du immer alles zerstören?«
Erst als die Frage gestellt war, merkte sie, dass sie schrie. Nicht nur Dulceta hatte es gehört. Sie fühlte plötzlich die Blicke vieler, die das Treiben vor ihrer Kate beobachtet hatten, beunruhigt von der Kunde, dass Dulcetas Mann krank sei, und nun noch mehr verwirrt, weil ein Fremder aufgetaucht war, an den sich nur die älteren erinnern konnten und der offenbar der Bruder des angesehenen Emeric Autard war.
»Du wirst ihn nicht retten, Aläis«, sagte Aurel. »Halte dich lieber von ihm fern.«
Sein Blick war erstaunlich fest. Nicht mehr Verlorenheit stand darin, nur Bedauern darüber, dass sie bald die gleiche Einsicht treffen würde wie ihn.
Alaïs wandte sich rüde ab. »Lass mich in Ruhe«, knurrte sie und wollte Dulceta folgen, die bereits in Richtung ihres Heims losgestapft war.
Da fühlte sie seinen festen Griff an ihren Schultern, fühlte, dass – wenn sich schon alles andere geändert hatte – seine Hand noch feingliedrig und langfingrig war
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