Die Gefährtin des Medicus
ertönte, als das Holzbein unter ihm wegbrach und er zu Boden fiel.
Alaïs hatte viele Menschen an der Seuche sterben sehen. Sie wusste, wie sie in den Leibern der Kranken wütete, sie konnte auch jetzt alle Zeichen erkennen. Doch als Aurel sich an den Kopf griff, seine Zähne klapperten, sein Leib sich krümmte, da glitt ihr Blick unwillkürlich zum Tisch – gewiss, verdorbene Mahlzeit zu sehen, die ihm nicht bekam. Der Tod war doch sein Begleiter, warum sollte er sich ausgerechnet an ihm rächen? Warum den Zweikampf, den sie stets ausgefochten hatten, mit so ungerechten und darum schäbigen Mitteln fortsetzen – obgleich Aurel doch ohnehin schon klein beigegeben hatte?
»Aurel …«, stammelte sie.
Keuchend versuchte er, sich aufzusetzen. Doch mochten seine Hände auch kräftig genug sein, das Gewicht des Körpers zu stemmen, so knickte der Holzfuß weg, als er zu stehen versuchte. Schwer fiel er erneut zu Boden, mittlerweile schweißüberströmt. »So hilf mir doch …«, murmelte er.
Sie blieb wie angewurzelt stehen. »Es kann doch nicht so plötzlich gekommen sein«, versuchte sie sich selbst das Offensichtliche auszureden. »Das Fieber … die Kopfschmerzen … du musst es doch schon bemerkt haben.«
Mit bebenden Händen zog er die Lederbänder um den Holzstumpf fest. Doch seine Kraft reichte nicht, ihn ausreichend zu befestigen. »Alle sterben … alle … Nun erwischt es mich.«
Nicht viele Schritte fehlten zur Schlaf statte. Er bemühte sichnun kein weiteres Mal, aufzustehen, sondern suchte sich robbend fortzubewegen. Alaïs löste sich aus der Starre, wollte sich zu ihm beugen. Gleichwohl die Achselhöhle unter seinem fleckigen Hemd verborgen war, starrte sie darauf und versuchte zu erkennen, ob sich dort eine der todbringenden Beulen wölbte.
»Ich schaff’s allein«, meinte er, als sie ihm die Hand zur Stütze reichte, »bring du mir Wasser … Wie Feuer brennt’s …«
Rasch wich sie zurück, dankbar, dass sie ihn nicht berühren musste. Bislang hatte sie nicht daran gedacht, dass der giftige Odem der Krankheit auf sie schwappen konnte – immerhin hatte sie die ersten Toten überlebt, obwohl sie so viel Zeit mit ihnen zugebracht hatte. Doch vielleicht war ihr Leib gegenüber einem, dem sie schon so nahe gekommen war wie kaum einem zweiten, ungeschützter. Rasch lief sie hinaus zum Brunnen, hörte noch seine letzten ächzenden Worte: »Warum hat Gott keinen sanfteren Tod erwählt, um uns vom Antlitz der Erde zu jagen …«
Auch ihr dürstete, als sie ins Freie trat. Allein der Gedanke an frisches Wasser ließ ihre Kehle trocken werden. War es ein Anzeichen, dass auch sie die Seuche zu übermannen drohte? Sie griff sich an die Stirn, doch diese war noch kühl. Dennoch fragte sie sich, ob Aurel recht behalten würde: Wurden die Menschen von der Seuche nicht einfach nur bestraft – wurden sie womöglich ausgerottet, sodass am Ende kein einziger mehr bliebe?
Sie schöpfte Wasser aus dem Brunnen. Doch anstatt es Aurel eilig zu bringen, tauchte sie selbst den Kopf in den Eimer, suchte in dem kalten, erdigen Nass Erfrischung und fand nichts als Dunkelheit. Als sie sich wieder aufrichtete, klebten ihre Haare in ihrem Gesicht.
Sie strich sie zurück. Immer noch war ihre Haut kühl – doch wie lange noch?
Wenn er stirbt, sterbe ich auch, dachte sie.
Wenn er kein Mittel dagegen weiß, dann weiß es keiner.
Vielleicht offenbarte sich erst jetzt, in dieser Stunde, dass er wirklich ein großer
Cyrurgicus
war – nicht in seinem Können,sondern in seinem Scheitern. Wenn nicht er, dann niemand, ging es ihr wieder durch den Kopf, als ruhte in seinen Händen nicht nur das Schicksal von Saint – Marthe, sondern das aller Menschen.
Sie nahm den Eimer und schleppte ihn in Richtung Schuppen.
»Mutter!«
Der unerwartete Ruf ließ sie zusammenschrecken, sie fuhr herum, verschüttete etwas Wasser. Raymonda stand nicht weit von ihr, hatte sich lautlos genähert. Nie war Alaïs der verhärmte Zug um ihren Mund aufgefallen. Hatte ihn das große Sterben in ihr Gesicht eingemerzt, oder war er immer schon da gewesen?
In jedem Falle neu war, dass sie sie Mutter rief. Für gewöhnlich tauchte sie auf und war da – aber eine Anrede hatte sie in all den Jahren nicht benutzt, nur in den Stunden, als die Zwillinge geboren worden waren.
»Mutter«, sagte sie erneut.
»Sind es die Kinder?«, entfuhr es Alaïs entsetzt.
Raymonda schüttelte den Kopf und deutete auf das Haus, in dem sie bis vor wenigen Jahren
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