Die Gefährtin des Medicus
Erstaunen öffnete er die Lippen und murmelte: »Hör auf deine Mutter!«
Mit einem Aufschluchzen wandte sich Raymonda ab und hastete zur Tür. Dort hielt sie inne, wollte noch ein letztes Zeichen setzen, um vom Vater Abschied zu nehmen. Rasch schlug sie ein Kreuzzeichen.
»Bitte geh!«, verlangte Alaïs und senkte den Blick, um nicht sehen zu müssen, wie Raymonda zu weinen begann. Sie hob ihn erst wieder, als jene die Schwelle nach draußen überschritten hatte, mit bebenden Schultern und die Hände vors Gesicht geschlagen.
Emy schlief ein, erwachte wieder, versank erneut in Dämmerschlaf, einem unruhigeren nun. Seine Schmerzen waren weiterhin lautlos. Es war spätabends, als er endlich wieder die Augen öffnete. Sie hatte darauf gewartet, hatte so sehr gehofft, dass er nicht einfach gehen würde, ohne noch ein Wort mit ihr zu wechseln. Doch nun, als er sie anblickte und sie in seinen Augen die Erkenntnis las, wie es um ihn stand, ertrug sie seinen Blick nicht, sondern schlug die Augen nieder.
»Bist du immer noch hier?«, fragte er.
Sie nickte, und im gleichen Augenblick sprudelten Tränen über ihre Wangen. Sie versuchte, nicht aufzuschluchzen, aber sie konnte nicht verbergen, dass sie weinte.
»Hör auf damit«, sagte er leise. »Du wirst doch nicht Tränen … für mich vergießen.« Es klang weder bitter noch höhnisch.
»Warum soll ich nicht weinen?«, klagte sie erstickt. »Ich trage doch keinen Hader gegen dich in meiner Seele. Du warst es doch, der mir nicht verziehen hat. All die Jahre nicht. Und ich habe mich so elend gefühlt deswegen, obwohl ich wusste, dass du ein Recht darauf hattest, mir zu zürnen. Genauso wie Raymonda. Aber jetzt …«
»Jetzt sterben alle«, unterbrach er sie. Seine Lippen waren rissig, seine Wangen irgendwie aufgedunsen. Mehr Spuren der Seuche gab sein Antlitz nicht preis – so wie es stets so vieles verborgen hatte vor der Welt. »Jetzt sterben alle«, wiederholte er. »Und du kannst dir denken, dass du wenigstens deine Freiheit genossen hast. Zumindest, solange du sie hattest.«
Sie schüttelte zaghaft den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich jemals frei war. Aber …«, sie zögerte, sich zu berichtigen, tat es dann doch. »Aber ja … ja … genossen habe ich vieles. Ich war glücklich in Avignon. Ich war glücklich auf dem Schiff von Pio Navale. Ich war glücklich auf Mallorca.«
Sie schluckte, zögerte fortzufahren. Schmerzte es ihn, dass sie so viele Dinge benannte – und so wenige, die mit ihm zu tun hatten?
Ich war auch glücklich auf unserer Wanderschaft, wollte sie sagen. Damals, als wir in der Sorgue Fische fingen.
Doch ehe sie erneut zu sprechen anhob, meinte er schon: »Dann ist es gut.«
Es konnte ernst gemeint sein oder höhnisch. Es konnte aus Bitterkeit geboren sein oder aus der Gleichgültigkeit eines Menschen, für den Irdisches nicht zählt. Jetzt endlich wagte sie, seinem Blick standzuhalten, doch seine Augen waren in den Schlitzen versunken.
»Wenn du es verstehst … wenn du es für gut befindest … warum hast du mir stets gezürnt die letzten Jahre? Ich weiß, ich habe dich und Raymonda einfach verlassen. Ich bin ohne ein Wort der Erklärung gegangen, und das war ein Unrecht. Gegen dich. Gegen sie. Aber Emy … war ich dir wirklich verpflichtet? War ich dir Treue und … Liebe schuldig? Du hast mich doch nur geheiratet, weil Aurel es wollte.«
Es war viel leichter, die Worte auszusprechen, als sie gedacht hatte. Manchmal waren sie ihr in den letzten Jahren auf der Zunge gelegen, doch noch größer als der Wunsch, sie endlich auszuspucken, war die Scheu gewesen. Die Scheu vor ihm, der stets so viel mehr dachte, als er sagte.
Nur jetzt schwieg er nicht, verhüllte nichts von dem, was in ihm vorging.
»Nein«, sagte er schlicht. »Nein, ich habe dich nicht geheiratet, weil Aurel es so wollte. Du bist nicht meine Frau geworden, weil er mich darum gebeten hat. Ich habe mich dafür entschieden, ich ganz allein. Aurel hätte dich mit deinem Kind im Leib irgendwo zurückgelassen, nicht aus Bösartigkeit, sondern weil er jeden Menschen vergaß, sobald ihm der nicht direkt vor Augen hockte. Er hätte sich nicht um dich geschert, sondern wäre rücksichtslos seinen Weg gegangen. Doch auf diesem Weg wollte ich ihn nicht mehr begleiten. Ich habe ihm erklärt, dass ich bei dir bleiben und deine Ehre wiederherstellen wollte. Er hat nicht versucht, es mir auszureden, hat nicht darauf gepocht, dass ich an seiner Seite bleibe. Vielleicht muss man ihm
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