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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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das sogar zugutehalten. Doch fest steht: Ich war für dich da. Ich allein. Er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, dass du Hilfe brauchtest.«
    Er seufzte – und das blieb das einzige Zeichen, dass ihm seine Worte Anstrengung bereiteten. Je mehr er sagte, desto mehr war Alaïs bewegt von dem Bekenntnis einer Wahrheit, die er ihr stets verschwiegen hatte.
    »Aber warum …?«, setzte sie an.
    »Hättest du denn eingewilligt, wenn du gewusst hättest, dass der Plan von mir stammte?«, unterbrach er sie.
    Das war es jedoch nicht, was sie hatte fragen wollen. »Warum, Emy, warum sorgst du immer für andere? Warum denkst du so wenig an dich selbst?«
    Er versuchte, sich etwas aufzurichten. Ihr ging auf, dass er noch nicht um Wasser gebeten hatte. Unaufgefordert reichte sie ihm die Schöpfkelle, und er trank sie leer, zwar gierig, aber dennoch so bedachtsam, dass er keinen Tropfen verschwendete.
    »Ich habe es dir doch schon einmal gesagt«, setzte er schließlich an; sein Kopf war wieder aufs Bett gesunken, »damals … in der Grotte … als ich klein war … wir arm … als mein Vater Aurel schlug, weil jener immer aufmüpfig war, als meine Mutter starb – da konnte ich nicht viel tun, aber das Wenige schon. Ich konnte ihm das Blut aus dem Gesicht wischen, ich konnte ihm Wasser zu trinken geben und etwas zu essen, ich konnte seine Kleider flicken. Ja, gewiss … ich habe es nicht nur für ihn gemacht, sondern immer auch für mich. Nicht ihm wollte ich beweisen, sondern zuförderst mir, dass die Menschen nicht sämtlich verrottet und grausam und niederträchtig sind, vielmehr füreinander sorgen können. Und dennoch … auch wenn ich ihm gerne das Brot wegaß … er war mein Bruder. Mein kleiner Bruder. War es anmaßend, ja, war es selbstgerecht, dass ich mir wünschte, es ginge ihm gut … und später dir?«
    Er zog die Decke höher, um zumindest den kranken Körper zu verbergen, entblößte er sich schon mit Worten.
    Alaïs zögerte. »Hast du mich geliebt?«, fragte sie schließlich. »So wie du Aurel geliebt hast?«
    »Er verhieß mir Freiheit, in gleicher Weise wie dir. Er gab mir ein Leben, wie ich es nie erwählt hätte und wie es mir dennoch gefiel. Ich mochte die Veränderung, aber ich hätte sie nie für mich allein gesucht. Ja, es war gut, mit ihm zu leben, eine Weile zumindest, irgendwann war es dann genug. Und später … später dachte ich, es gäbe kein größeres Glück, als Raymonda aufwachsen zu sehen. Schade, dass du nie so gefühlt hast.«
    »Ich bin doch zurückgekehrt. Trotz allem bin ich zurückgekehrt.«
    »Weil du müde warst. Weil Aurel dich enttäuscht hat. Weil es damals keinen anderen Ort mehr für dich gab. Es war nicht um meinet – oder um Raymondas willen.«
    »Du hast mir nicht geantwortet: Hast du mich geliebt, Emy?«
    Der Tod deuchte sie wie ein Spiegel, der nichts verbarg. Klar und deutlich brachte er alles ans Licht, und seine scharfen Ränder zerschnitten die Lügen.
    »Du warst wie er. Du warst wie seine kleine Schwester«, murmelte er. »So schnell für etwas zu begeistern. So selbstbewusst und stark. Doch zugleich warst du fröhlicher als er, nicht so stur, nicht nur von einer Sache besessen, sondern offen für alles, was die Welt dir schenkte. Nur deinetwegen war ich stark genug, mich von ihm zu lösen. Nie hätte ich es ohne dich geschafft. Ach, Alaïs … Ich wollte, dass du mich siehst. Ich wollte, dass du mich nur ein einziges Mal siehst! Aber du hast mich nicht gesehen. Du hast immer nur … ihn gesehen.«
    Das Bild vor ihren Augen verschwamm in Tränen. Mit der Hand tastete sie nach seinem Gesicht.
    »Du hättest eine bessere Frau als mich verdient … und einen besseren Bruder als ihn.«
    »Ihr seid keine schlechten Menschen. Ihr habt so viele Kranke gerettet.«
    »Jetzt nicht mehr. Jetzt nicht mehr.«
    Jetzt war eine Krankheit über sie gekommen, die selbst Aurel nicht verstand. Eine Krankheit, die sie zwang, bei ihm zu sitzen und ihm beim Sterben zuzuschauen. Es fiel ihr nichts mehr zu sagen ein; es war ja alles gesagt.
    Inmitten des Schweigens brach Emys Stimme noch einmal durch seine spröden Lippen. »Hippokrates hat gesagt, dass Wassertropfen einen Stein nicht mit Gewalt aushöhlen, sondern mit Ausdauer. Aurel hat ihn einmal zitiert.«
    Beschrieb er sich? Sein stilles Werben um sie, das sie nie bemerkt hatte? Dachte er, er hätte gewonnen, weil sie nun hier bei ihm saß? Aber konnte das ein Sieg sein?
    Sie würde nie erfahren, was er meinte.
    »Jetzt werde ich

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