Die Gefährtin des Medicus
Wort mit ihrem Mann, Manchmal starrten sie sich in diesen Wochen an, und sein Blick war dann nicht kalt und abweisend wie sonst, sondern irgendwie … mitleidig. Vielleicht galt das Mitleid ihr, vielleicht ganz Saint – Marthe, vielleicht sich selbst. Nein, Letzteres war nicht möglich. Emy dachte nie an sich, schon gar nicht jetzt, da er wie sie ständig auf den Beinen war, um Kranke zu pflegen, Tote zu begraben und ausgerechnet Aurel, der immer noch im Schuppen lebte, mit Essen zu versorgen. Sie hatte ihn dabei beobachtet, jedoch nicht gefragt, warum er das tat. War sein Hader in den Tagen des Sterbens geschwunden? Oder war seine Treue stärker als jegliche Kränkung – so wie auch sie Aurel nicht nur einmal vergeben hatte?
Alaïs ergründete es nicht. Anders als Emy mied sie Aurel zunächst. Er hatte recht behalten mit seinen dunklen Prophezeiungen. Nichts konnte sie seinen Worten, wonach sie alle sterben würden, entgegensetzen. Aber zugeben wollte sie es nicht … wollte es zumindest nicht bis zu Dulcetas Tod.
Diese fehlte ihr nicht – jedoch ihre vermeintliche Furchtlosigkeit, ihr Trotz, ihre Ausdauer. Ohne sie konnte Alaïs nichts mehr davon aufbringen, sondern wollte sich am liebsten verkriechen, ja, sich in ein Erdloch eingraben. Nun, ein solches gab es nicht, aber zumindest den Schuppen, und dorthin ging sie eines Tages und hockte sich wortlos neben Aurel, der ausgerechnet dort saß, wo Emy einst auf den Morgen gewartet hatte, während der Bruder Leichname seziert hatte.
Ihretwegen hätten sie sich gerne anschweigen können, doch plötzlich erhob Aurel die Stimme.
»Hast du nun begriffen?«, fragte er rau. Er musste ihr wohl nicht lange ins Gesicht sehen, um ihre müden Augen zu erkennen, die Trostlosigkeit, die Erschöpfung. »Nichts«, fuhr er fort. »Nichts kann man tun. Man ist machtlos.«
»Ich … ich wollte bei Pierre – er war der erste Tote – eine Beule aufschneiden«, murmelte sie. »Doch es kam nicht mehr dazu. Sie ist von alleine aufgeplatzt, und er ist trotzdem gestorben. Beim jungen Raimon habe ich es dann getan, doch auch er war wenig später tot und darum habe ich es nicht wieder versucht. War das vielleicht ein Fehler? Habe ich zu früh aufgegeben?«
Sein Gesicht war verklebt von Schweiß und Erde. Er schien sich seit seiner Ankunft nicht gewaschen zu haben. »Am Anfang dachte ich, es würde genügen, sie aufzuschneiden, um das Gift aus dem Körper rinnen zu lassen«, sprach er leise. »Aber es gibt nur einen einzigen kurzen Augenblick für diese Behandlung. Versucht man es zu früh, ist der Kranke verloren, wartet man zu lange, ist er es ebenso. Und selbst wenn man den richtigen Augenblick erwischt, so kann er trotzdem sterben – zum Preis, dass er noch größere Schmerzen erleiden muss. Auf Dauer verliert man beim Glücksspiel mehr als man gewinnt.«
Seine Worte versickerten in der dunstigen Schwüle. Nichts gab es, woran sie sich festhalten konnten.
»Es ist kein Glücksspiel. Es ist ein Kampf um Leben und Tod. Man kann sie doch nicht einfach sterben lassen«, beharrte Alaïs.
Aurel rang seine Hände. Schwarze Halbmonde hatten sich unter den Fingernägeln gebildet. Nie hätte er sich früher so gehen lassen, nie einen Menschen mit dreckigen Händen behandelt. Aber genau genommen tat er das auch nicht.
»Man kann auf ein Wunder hoffen«, sagte er. »Drei Menschen habe ich gesehen, die überlebten die Seuche. Aber vielleicht nicht wegen der ärzte, die sie aufschnitten, sondern weil sie verzweifelter gebetet haben.«
Alaïs sprang unvermittelt auf. Tränen trieben in ihre Augen. Sie rollten nicht über ihre Wangen, aber in ihrem Mund schmeckte es salzig, und sie schluckte heftig. Nie hatte sie sich von ihm so getäuscht gefühlt, nicht am Strand vor der Grotte, als er Emy zum Vater seines Kindes und zu ihrem Ehemann bestimmte, nicht nach der Reise nach Arles, da er mehr Gedanken an seinen Stumpf verschwendet hatte als an ihre Zukunft. »Aurel!«, schrie sie. »So sprichst du nicht! Das bist nicht du!«
»Aber was soll ich denn sagen, Alaïs? Ich habe so viele Menschen sterben sehen.«
»Du willst doch der größte
Cyrurgicus
deiner Zeit werden, Aurel!«, begehrte sie auf, und diesmal klang es nicht vorwurfsvoll, nur verzweifelt.
»Diese Krankheit ist so viel größer, als ich je sein könnte!«
Händeringend schwieg sie. Sie wusste, dass sie ihm vieles vorwerfen konnte – das große Sterben aber nicht. Seufzend ließ sie sich wieder neben ihm auf den Boden
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