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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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sehen.«
    Doch zu dem allen schien nicht sie zu gehören. Aläis suchte seinen Blick oft, doch die Momente, da sie ungehindert in die glühenden braunen Augen blicken konnte, waren rar, genauso wie Aureis Lobesworte. Eigentlich fielen solche gar nicht, nur hin und wieder murmelte er am Morgen verschwörerisch: »War es nicht aufregend, diese Nacht?«
    Das war nicht sonderlich viel. Doch wenn sie die Worte lang genug drehte, ähnlich wie Aurel Louises tote Augen von allen Seiten gemustert hatte, zog sie Ermutigung daraus. Gewiss gefiel es ihm, dass sie so furchtlos war und dass er nicht nur mit dem gleichmütigen Bruder arbeiten musste. Gewiss erkannte er, wie sehr sie sich von den Menschen in Saint – Marthe unterschied: kleingläubig und schlicht jene, sie hingegen ein ganz außergewöhnlich tapferes Weib.
    Diese Menschen von Saint – Marthe kamen tagsüber zu ihrer Kate geschlichen und verlangten mit Aurel zu sprechen, klagten diesem dann kleine Wehwehchen oder größere übel. Manche brachten ein Stück Brot mit, andere einen Laib Ziegenkäse, wieder andere nichts als ein scheues Lächeln.
    »Weil sie denken, dass wir ihn durchfüttern«, schimpfte Caterina.
    Aläis gähnte. Eigentlich gähnte sie den ganzen Tag über. »Aber die beiden brauchen doch nicht viel …«
    So wenig wie Aurel schlief, so wenig aß er auch.
    »Trotzdem …«, murrte Caterina. »Wohler wäre mir, sie würden das Dorf verlassen."
    Das, was die Mutter erhoffte, war Aläis größte Furcht. Und diese ward noch geschürt, als sie in der vierten Nacht in den Schuppen kam und Louises Leichnam fortgeschafft war.
    »Wo ist sie?«, fragte sie.
    Aurel ging unruhig auf und ab und rang mit den Händen, die nun zum Nichtstun gezwungen waren. »Wenn sie erst mal verrotten, kann man sie nicht mehr gebrauchen«, murrte er, und Emy setzte erklärend hinzu: »Der Gestank wäre immer schlimmer geworden. Wir wären nicht länger unentdeckt geblieben.«
    Alaïs hatte das Gefühl, als könnte sie freier atmen – und zugleich, als würde ihr die Brust eingedrückt.
    Er wird gehen, dachte sie. Er wird gehen und sich nicht umdrehen. Und ich bleibe zurück, bei meinen Eltern, bei Josse, bei Régine, bei Bethilie, bei Frère Lazaire. Jeder einzelne Name fühlte sich an wie ein Schlag.
    »Und nun?«, fragte sie.
    Emy zuckte die Schultern.
    Am nächsten Tag starb der alte Ricard, der seit einem halben Jahr Blut hustete. Und als Alaïs davon hörte, wusste sie, dass Aurel fürs Erste bleiben würde.
     
    Diesmal war sie dabei, als die Brüder den alten Ricard ausgruben. Wenn Aurel es gefordert hätte, dann hätte sie eigenhändig in der roten Erde gewühlt. Doch Emy meinte ungewohnt redselig, sie beide schafften es auch allein und es würde genügen, wenn sie Wache stünde.
    Zuerst hätte sie fast widersprochen. Nun, da das Grauen ob des Anblicks von Louises Leiche fast verebbt war, vermeinte sie sich im Umgang mit dem Tod geübt. Der Gedanke, nachts den Friedhof zu betreten – vor wenigen Wochen noch ein unvorstellbares Wagnis –, erfüllte sie, als sie es sich vorstellte, mit einem erregenden Kribbeln. Doch als sie tatsächlich den kleinen Hügel hochstapfte, war sie insgeheim dankbar, dass Emy sie von der eigentlichen Aufgabe entbunden hatte. Während sie, den Rücken dem Grabe zugewandt, auf das Dorf starrte – zu bewachen gab es wenig, da jeder schlief –, war es kein Abenteuer mehr, das es zu überstehen galt, sondern nur eine schneidend kalte Nacht, die alles, was am Tage lieblich anzuschauen war, bedrohlich färbte. Das Meer, das ihr ansonsten grünlich schimmernd die Ahnung von Freiheit schenkte, war ein schwarzes Loch. Die zackigen Felsen der schmalen Bucht schienen zu Fratzen geformt.
    Mochte sie nun schon mehrere Nächte durchwacht haben, so lange im Freien hatte sie bei Dunkelheit noch nie gestanden.
    Was tue ich hier?, dachte sie, als sie sich erstmals zögerlich urawandte, um zu sehen, wie weit die Arbeit der beiden fortgeschritten war. Emy grub langsam und bestimmt, Aurel so hektisch und unbeherrscht, als wäre er ein Hungernder, der in der Erde seine letzten Vorräte wusste. Obwohl sein Gesicht verborgen war – in der Nachtschwärze und unter seinem kinnlangen Haar –, vermeinte Alaïs in seinem Blick doch eine gewisse Gier zu sehen.
    Ricards Antlitz kam ihr in den Sinn – das eines gebrechlichen, fleckigen, faltigen Mannes. Schon zu Lebzeiten hatte sie von seinen zittrigen Händen nicht berührt werden wollen.
    Was tue ich hier?, fragte sie

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