Die Gefährtin des Medicus
von den Ernährungsorganen. Das ist ungemein wichtig. Sie verhindert, dass die Gase von Letzteren hochsteigen und Erstere vergiften.«
Er ließ die Hände wieder sinken, grub dann nach etwas anderem. Seine Stimme klang beinahe sanft, als er fortfuhr. »Das Herz«, sagte er, »das Herz liegt im Zentrum der Brusthöhle. Die linke Seite ist kühler und kann von der rechten gewärmt werden.«
Alaïs scharrte mit den Füßen auf dem erdigen Boden, rang wieder damit zu gehen – und ahnte insgeheim, dass sie den Zeitpunkt der Flucht verpasst hatte. Was immer hier geschah, war frevlerisch und grässlich – und zugleich so aberwitzig, als fände es nicht nur in einem einsamen Schuppen statt, sondern in einer vollkommen anderen Welt. Sämtliche Gebräuche, sämtliche Gesetze schienen hier an Kraft zu verlieren; unbeschnitten von ihnen bewegten sich die Gedanken, zumindest Aureis Gedanken. Sie verstand sie nicht, sie waren kalt und rücksichtslos – und zugleich so eifrig, so fordernd, so wendig.
»Ihr müsst sofort aufhören«, meinte Alaïs zaghaft und war von seiner Dreistigkeit doch insgeheim bestochen.
»Mach ihm keinen Vorwurf!«, krächzte Emy an ihrem Ohr, und wieder fühlte sie seinen warmen Atem. »Die Wissenschaft der Anatomie ist eine eigene Disziplin an den Universitäten.«
»So sollte es zumindest sein!«, rief Aurel dazwischen. »DieSalerner haben es ganz genau gewusst. Alphanus, Ursus von Lodi, Gariopontus.
Wie willst du heilen, wenn du die Ursachen nicht kennst?,
fragte Letzterer. Deswegen muss man den Leib des Menschen erforschen, nicht nur den der Lebenden, sondern auch den der Toten.«
Alaïs wusste mit den Namen nichts anzufangen.
»Die Schule von Salerno«, erklärte Emy an Aureis statt, »brachte einige der größten ärzte der Geschichte hervor. Sie waren in Anatomie und Chirurgie sehr bewandert, und sie …«
»Schade, dass Manfred von Sizilien sie geschlossen hat!«, fuhr Aurel wieder dazwischen. »Die Universität von Neapel wird niemals an die von Salerno heranreichen.«
Seine Hände lösten sich von dem geöffneten Leib. Kurz nur tauchte er sie in einen Eimer voll Wasser, dann griff er nach einem seiner Bücher und schrieb etwas hinein.
Ihr Ekel rang mit der Neugierde. Mochte sie das meiste, was Aurel gesagt hatte, auch nicht verstehen, so hatte sie längst zu viel belauscht, um einfach zu gehen und in ihre alte Welt zurückzukehren, ohne von dieser hier zu wissen.
Sie trat zu Aurel und neigte sich über seine Schulter, um zu sehen, was er in dem Büchlein festhielt. Zu ihrem Erstaunen schrieb er keine Buchstaben, sondern zeichnete ein sonderliches Gebilde, aus einer großen Kugel bestehend und aus mehreren Strichen, die davon wegführten.
»Es gibt viel zu wenige anatomische Zeichnungen«, erklärte er hastig. »Das Buch über die Anatomie der Schweine, das in Salerno entstand, ist sehr wichtig. Aber es wurden dafür eben Schweine seziert, keine Menschen. Die
Anatomia Ricardi
wiederum ist unvollständig.«
»Wirst du uns verraten?«, fragte Emy.
»Henri de Mondeville«, fuhr Aurel fort, »führte anatomische Demonstrationszeichnungen in den Unterricht ein und hinterließ ein wundärztliches Lehrbuch. Aber das habe ich nur ein einziges Mal in die Hand bekommen. Ein Arzt muss die Anatomie genau kennen, sagte Mondeville.«
Er sprach die Worte so ehrfürchtig aus wie einen Bibelvers.
»Nicht nur Mondeville fertigte anatomische Zeichnungen an«, fügte er hinzu. »Ich tue es auch.«
»Wirst du uns verraten?«, fragte Emy wieder.
Alaïs biss sich auf die Lippen.
Aurel indes wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Komm her!«, forderte er und legte das Büchlein zur Seite. Zum ersten Mal richteten sich seine braunen Augen etwas länger auf ihre Gestalt. Prüfend schien ihr sein Blick, als wäre er sich noch nicht sicher, wozu sie taugte, und verhieß doch jene Aufmerksamkeit, auf die sie bislang vergebens gehofft hatte. Unwillkürlich straffte sie die Schultern, machte sich so groß wie möglich.
»Ich werde euch nicht verraten«, bekundete sie knapp.
»Komm her!«, wiederholte Aurel. »Du könntest mir helfen.«
Sämtliche ihrer Glieder schmerzten, als Alaïs im Morgengrauen ins Freie trat. Solange es finster gewesen war, sie nur vom Licht der Fackel gezehrt hatte, hatte sie sich hellwach gefühlt. Doch als das graue Licht des Morgens durch die Ritzen der Scheune gesickert und Alaïs bewusst geworden war, dass sie eine ganze Nacht nicht geschlafen hatte, waren ihr nicht
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