Die Gefährtin des Medicus
Befehls nicht mehr recht entsinnen. War nicht vielleicht doch statt Ursanne die alte Bethilie gemeint gewesen?
Ehe sie sich entschließen konnte, den Korb wieder zu heben und weiterzugehen, hörte sie die Stimmen. Von allen Seiten schienen sie zu kommen.
»Seid doch still!«, hätte sie am liebsten gerufen. Doch schnell wurde ihr bewusst, dass nur sie die Stimmen übertrieben lauthörte und diese nur in ihrem Kopf dröhnten. Der kalte Schweiß brach ihr aus.
»Hast du schon gehört?«, fragte jemand ganz dicht neben ihr. Sie musste sich zwingen, die Augenlider offenzuhalten und sich umzudrehen.
Nicht schon wieder!, dachte sie, als ihr Blick auf Josse fiel. Unwillkürlich wich sie zurück. »Régine ist schrecklich besorgt!«, fügte er hinzu.
»Worüber?«, fragte Alaïs müde.
»Nun, darüber!«
Er deutete auf die zahnlose Bethilie, die nicht weit entfernt stand – offenbar schon seit geraumer Zeit –, um immer wieder dieselbe Geschichte kundzutun. Zahlreiche Menschen waren von ihr angelockt worden, darunter auch Frère Lazaire, obwohl der auf das Geschwätz auf dem Dorfplatz gemeinhin nicht viel gab.
»Ich sag’s euch, ich sag’s euch«, nuschelte Bethilie, »der Teufel hat zuerst Louise geholt und dann Ricard. Gnade dem, der als Nächstes stirbt! Auch dessen Seele wird nicht sicher sein vor ihm!«
Die Umstehenden schüttelten empört die Köpfe. Nur Alaïs stand wie starr. »Wie kommt sie darauf?«, flüsterte sie.
»Der Friedhof ist aufgewühlt«, berichtete Josse mit aufgerissenen Augen, wodurch sie noch glupschiger wirkten. »Es sieht so aus, als hätte dort jemand herumgetrampelt. Im ganzen Dorf ist Erde verstreut.«
»Vielleicht … Vielleicht …«, stammelte Alaïs.
Eben hob Frère Lazaire seine Arme. »Das kann kein Zufall sein!«
»Vielleicht war es der Wind«, unterbrach Alaïs ihn, ehe er fortfahren konnte. Sie hatte weiterhin nur flüstern wollen, doch ihre Stimme geriet so laut, dass nicht nur Josse sie hörte.
Frère Lazaire blickte sie verkniffen an.
»Der Wind? Pah!«, stieß er aus. »Ist euch nichts aufgefallen?«
Die alte Bethilie erschauderte wohlig. Josse hingegen fragte dümmlich: »Was soll uns aufgefallen sein?«
»Ihr müsst wachsam sein. Der Teufel kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wobei ich mich nicht wundere, weshalb er eben jetzt kommt.«
Frère Lazaire schlug sich nachdenklich mit den Fingern aufs Kinn, als müsste er erst mühsam nach weiteren Worten ringen. Alaïs war sich jedoch sicher, dass er längst geplant hatte, was er sagen wollte. Ihr fiel ein, wie ihr Vater schon des öfteren über den Franziskaner geurteilt hatte: dass dieser ein eitler Gockel sei und sich – hätte er nur genug Vermögen – in bestes Tuch kleiden würde. Doch da es zum Reichtum nicht genüge, so müsse er sich mit äußerster Armut wichtig machen. Und da ein gewöhnlicher Bettler kaum mehr auf sich ziehe als Verachtung, Mitleid und Ekel, so müsse er jene außerordentliche Armut wiederum mit außerordentlicher Frömmigkeit paaren.
»Nie hat sich dergleichen beobachten lassen. Nie waren die Gräber aufgewühlt. Und nun geschieht’s ausgerechnet dann, als dieser
Cyrurgicus
aufgetaucht ist!«, erklärte er. Er hatte die Stimme deutlich gesenkt, die Leute mussten näher kommen, um ihn zu verstehen. Einzig Alaïs wich zurück, derart in Eile, dass ein Ei aus dem Korb rollte und auf dem staubigen Boden aufschlug. Der Dotter troff gelb hervor und versickerte im Sand.
Die Menschen waren so gebannt, dass sie das Missgeschick nicht bemerkten. Nur Frère Lazaire löste seine Hand vom Kinn und deutete auf sie. »He du! Azalaïs Montpoix!«
Alaïs hasste es, wenn man sie mit diesem Namen rief. Die Brüder hatten es einst getan, wenn sie sie necken wollten, denn als Kind hatte sie nicht vermocht, ihn richtig auszusprechen.
Sie drehte sich um, als hätte sie ihn nicht gehört. »Bleib stehen!«, rief Frère Lazaire ihr nach. »Du kennst doch den
Cyrurgicusl
Er wohnt bei euch in der Scheune! Sag, ist dir nichts Sonderbares aufgefallen?«
Alaïs versuchte, ein gleichmütiges Gesicht aufzusetzen, als siesich ihm wieder zuwandte. Doch sie konnte nicht verhindern, dass sie glühend rot wurde.
»Ja!«, keifte ihr da schon Ursanne ins Ohr. »Was tun er und sein Bruder denn den ganzen Tag lang?«
»Soweit ich weiß, haben sie deinem Mann einen Zahn gezogen, und so faulig wie der war, hat das schon die Hälfte des Tages gedauert«, gab Alaïs schnippisch zurück.
Ursanne war sichtlich verlegen,
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