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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Stillstand einherging. Und wenn sie sich erst ausreichend bewegte, kehrten meist die Lebensgeister wieder und hielten sie frisch.
    Nicht nur, wie man Wunden nähte, lernte sie, sondern auch, wie man sie ohne schmerzhafte Stiche heilen konnte.
    So ließ sich aus Weihrauch, Drachenblut – ein rotbraunes Harz – und Eiklar eine Paste machen, die an den Wundrändern aufgetragen wurde. War diese getrocknet, so konnte man jene Ränder zusammennähen, ohne durch die Haut zu stechen.
    Auch wie man mit älteren Wunden verfuhr, die nicht recht vernarben wollten, erfuhr sie. Hier war ein Pflaster angeraten – solcherart angefertigt, dass man ein Stück Leinen in warmes Wasser, Honig, Öl und Gerstenbrei tauchte und es auf der Wunde trocknen ließ.
    Unterschiedliche Arten von Verbänden lernte sie kennen: die schlichten aus Leinen, Wolle und Baumwolltüchern, aber auch kompliziertere aus Lederlappen, Wergbäuschen und Federkissen. Einige Wunden ließen sich am besten schließen, legte man zunächst dünnes Bleiblech auf und band darüber erst den Stoff.
    Manchmal war es nicht Aurel, sondern Emy, der sie belehrte. Mochte der jüngere Bruder nach allem gieren, was Menschenfleisch versprach – ob nun lebendig-frisches oder schon verwestes –, so zeigte der ältere nicht nur Freude an blühenden Wiesen, sondern an jeder Form von Düften, und die ausgefeilten Arzneien, die er braute und mit denen er experimentierte, verhießen ebendiese.
    Erst nach und nach begriff Alaïs, dass er nicht nur still und heimlich für ihre Unterkunft und ihr Essen sorgte, sondern auch für die Zutaten, um daraus Salben zu machen. Emy war es häufig auch, der diese verkaufte, während Aurel als Medicus lediglich Empfehlungen abgab.
    »Die Pharmazie ist eine eigene Wissenschaft«, erklärte er Alaïs, die verwundert war, warum Aurel nicht beide Funktionen, die des Arztes und die des
Apothecarius,
in sich vereinte. »An der Universität sind sie strikt voneinander getrennt. Und auf dass die einen nicht mit dem Geld verdienen, worin die anderen besser sind, gibt’s ein Gesetz, wonach ein Medicus keine Apotheke mit sich führen darf.«
    »Aber du darfst das doch auch nicht, wenn du es nicht studiert hast!«, rief Alaïs.
    Er zuckte nur die Schultern. »Solange wir zu zweit unterwegs sind, fällt’s nicht auf. So ist eben er der Arzt und ich der Apotheker. Ich habe schon als Kind gerne Tränke gebraut … für meine Mutter, die am Bluthusten litt. Leider ist sie trotzdem früh gestorben. Danach waren wir mit dem Vater allein.«
    Selten sprach er über die Vergangenheit, und Alaïs ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt, mehr über die Herkunft des ungleichen Brüderpaars zu erfahren.
    »Was ist geschehen zwischen der Kindheit, da euer Vater Aurel so oft verprügelt hat, und der Zeit, da er ein Medicus in Montpellier wurde?«
    Wieder zuckte Emy die Schultern und ließ keinerlei Gefühl erkennen. »War immer dasselbe. Vater wollte Aurel zum tüchtigen Bauern erziehen, und Aurel hat die Arbeit gehasst.«
    Alaïs erinnerte sich daran, wie lästig es ihr stets gewesen war, Fische auszuweiden, und konnte ihm das nicht verdenken.
    »Ich habe oft gefürchtet, dass mein Vater Aurel noch totprügeln würde«, fuhr Emy fort. »Aber dann ist er gestorben. Ganz ohne jede Krankheit. Er ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Aurel hat es schrecklich bedauert.«
    »Dass er starb?«
    »Nein, dass es so leise geschah. Und ohne Schmerzen. Aurel hatte gehofft, er möge ihn leidend um Hilfe anbetteln und endlich erkennen, dass in ihm zwar kein Talent zum Säen und Ernten stecke, jedoch ein anderes.«
    Alaïs zog verwirrt die Stirn kraus. »Ich habe nicht den Eindruck, dass Aurel Gewinn daraus zieht, wenn Menschen leiden und ihn um Hilfe anbetteln. Es reicht ihm doch, wenn sie blutend am Boden liegen.«
    »Weil es eben Fremde sind, nicht unser Vater«, bemerkte Emy schlicht – und Alaïs fragte sich, ob mit dem Tod des Vaters in Aurel jene Gefühle gestorben waren, die sie an ihm vermisste: die Anteilnahme, die Besonnenheit, die Zurückhaltung, die Höflichkeit.
    »Und danach?«, fragte sie. »Was ist geschehen, nachdem euer Vater tot war?«
    »Wir sind fortgegangen. Ich habe Geld verdient, mit diesem und jenem, und Aurel hat studiert.«
    Konnte man die Geschichte ihres Lebens in noch knappere Worte fassen, in kaum mehr als geheimnisvolle Andeutungen?
    Alaïs war es leid, ihm jedes Einzelne Würmern gleich aus der Nase zu ziehen – und konnte sich eine letzte Frage

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