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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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nähen, wo sie am tiefsten sei, folglich in der Mitte, um sie zunächst rechts, dann links zu schließen, was wiederum bedeute, dass insgesamt eine ungerade Zahl an Stichen notwendig sei.
    Alaïs fragte sich, warum er immer so viel redete. Um sich selbst Sicherheit zu verleihen oder um mit seinem Wissen zu prahlen?
    »Hilf mir!«, forderte er wieder. »Du musst die beiden Wundränder aneinanderpressen, damit ich so schnell wie möglich nähen kann!«
    Der Mann gab gurgelnde Geräusche von sich, war aber derOhnmacht zu nahe, um sich weiterhin zu wehren. Die Blutlache, die sich rund um ihn ausgebreitet hatte, versickerte im Sand und wurde schwarz. Aurel vollzog den ersten Stich und zog den Faden fest.
    »Siehst du«, sagte er, »genau einen Fingerbreit voneinander entfernt müssen die Stiche sein. Es macht nichts, wenn noch frisches Blut fließt – es ist sogar gut, weil es die Wunde reinigt. Wenn man ein Geschwür aufschneidet, muss man sogar darauf warten, dass frisches Blut kommt.«
    Das Geräusch, als er den Faden durch das offene Fleisch zog, war leise – und doch eindringlich. Es schmerzte in ihren Ohren, klang beharrlich wie ein Echo nach. Doch der Drang, einfach fortzulaufen, den sie zuvor verspürt hatte, war erloschen. Sie wusste nicht genau, was sie an Aurel fesselte, ob die Bestimmtheit seiner Behandlung, die erklärenden Worte oder die barschen Befehle – sie wusste nur, dass sich dieser Augenblick so tief, so heftig, so wahrhaftig anfühlte wie kaum ein anderer der oft so nachlässig verschleuderten Zeit. Jener Augenblick, währte er auch nur einige Atemzüge lang, schien mehr Gewicht zu besitzen als viele Tage. Wie lange es genau dauerte, die Wunde zu schließen, schließlich weitere Weinkompressen daraufzudrücken und einen Verband anzulegen, wusste sie später nicht mehr, nur, dass sie ihre schmerzenden Knie nicht spürte, nicht die Sonne, die auf sie hinabbrannte, nicht die Ausdünstungen der Umstehenden. Es gab nur den Verletzten, Aurel und sie auf der Welt und jene schien stillzustehen. Irgendwo anders mochte die Zeit ihren gewohnten Gang nehmen, sie aber unterlagen nicht ihren Gesetzen. Sie hockten an jenem kleinen Loch des Stundenglases, durch das alles, was war und ist und sein wird, drängt, an jenem Ort, wo die Gegenwart sich noch an die Vergangenheit klammert und die Zukunft bereits lockt.
    Als Emy endlich hinzutrat, gab es nichts mehr zu tun. Er roch nach Wiese und Sonne.
    »Wo bist du denn so lange geblieben?«, fuhr Aurel ihn an.
    Emy kaute wieder einmal auf etwas, diesmal nicht auf einemGrashalm, sondern auf einem Blumenstängel. Sein Blick ging zwischen dem Verwundeten und Alaïs hin und her.
    »Wie es aussieht, hast du mich nicht gebraucht«, bemerkte er schlicht.
     
    Nicht selten geschah’s, dass Aurel des Abends mit einem Stück Leder oder der Schale eines Kürbis auf den Knien beim Feuer saß und daran die Stiche erprobte, mit denen sich Wunden schließen ließen. Und nachdem sie gemeinsam den Verletzten behandelt hatten, saß Alaïs, die das Nähen immer gehasst hatte, solange es ihre Mutter befohlen hatte, daneben, sah neugierig zu und probierte es schließlich selbst aus. Bis tief in der Nacht kauerten sie so über dem Feuerschein. Wie damals, als er Leichen aufgeschnitten hatte, zeigte Aurel keinerlei Anzeichen von Müdigkeit, und auch Alaïs verkniff es sich zu gähnen. Manchmal warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf den schlafenden Emy, der seine Nachtruhe nicht zu opfern bereit war, aber dieses Alleinsein mit Aurel war zu kostbar, um der Erschöpfung nachzugeben. Er belohnte sie fast nie mit einem lobenden Wort – bestenfalls bekam sie Erklärungen zu hören, so kompliziert, dass sie sich nicht einmal die Hälfte davon merkte –, aber sie wollte keinen jener Augenblicke verpassen, da das Leben stillstand und ihr und ihm allein zu gehören schien.
    Die Morgenstunden des nächsten Tages wurden oft zur Qual. Dann wusste sie kaum, wie sie die Augenlider offenhalten und nicht über die eigenen Füße stolpern sollte. Wenn die Müdigkeit gar hartnäckig auf ihren Schultern hockte und sie sie nicht einfach abschütteln konnte, fragte sie sich manchmal, ob sich die Anstrengung für Aurel lohnte und welche Rolle es war, die sie in seinem Leben einnahm. Doch da sie die Entscheidung für dieses Leben nicht willentlich getroffen hatte, fand sie es müßig, mit dessen Schattenseiten zu hadern. Es genügte ihr vorerst, dass es mit Abwechslung und Neuem und Erregung und fehlendem

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