Die Gefährtin des Medicus
doch nicht verkneifen.
»Und hast du dir nie überlegt, deiner eigenen Wege zu ziehen?«
»Hab’s doch schon einmal gesagt. Ich bleib bei ihm, weil er der Klügere von uns ist.« Er machte eine kurze Pause. »Und weil er weniger vom Leben versteht.«
Widersprüchlich schien ihr, was er sagte – wie konnte er den Bruder zugleich für überlegen und für dumm erklären?
Doch dann schwieg sie, anstatt ihm weitere Offenbarungen abzuringen, ahnend, dass sie niemals schlau aus ihm werden würde und sie sich nicht entscheiden konnte, was er nun war: einfältig oder durchtrieben, willfährig oder störrisch wie ein Esel. Vielleicht war er beides zugleich – was es nicht einfacher machte, ihn zu verstehen. Doch es gab so viel zu lernen, so viele Eindrücke, mit denen sie fertig werden musste, da wollte sie sich nicht auch noch damit plagen, sein Wesen zu ergründen.
----
IX. Kapitel
----
Sie entfernten sich weiter von der Küste und kamen dorthin, wo das Land weicher und runder wirkte, nicht aufgewühlt von schroffem Fels, sondern von Feldern golden gefärbt. Rote, weiße und blaue Blumen wuchsen an ihren Rändern, und Alaïs verstand nun manchmal, warum Emy lieber daran roch als möglichst schnell zu Kranken zu eilen. In jenen Tagen nämlich erkrankten viele Menschen an der gleichen Seuche: Sie erbrachen das eben Gegessene, litten an heftigem Fieber und Nierenschmerz, sie beklagten unerträglichen Druck auf Kopf und Genick, und wenn sie husteten, so klang es bei allen feucht und nicht wenige spuckten gelben Auswurf aus.
Alaïs musste sich zwingen, nicht vor dem Gestank und dem Elend wegzulaufen, doch wie immer überwog der Trotz, sich vor Aurel zu beweisen, gegenüber dem anfänglichen Widerwillen, und wie immer verlieh seine Bestimmtheit ihr Kraft. So blieb sie, um zu lernen, wie man den Erkrankten am besten helfen konnte: mit Tränken aus Heilkräutern oder durch das Aufsetzen von Schröpfköpfen. Jene erzeugten Blasen, und wer Glück hatte, dem brachen sie auf. Der Eiter, der hervortroff, konnte dann nicht länger den siechenden Körper vergiften.
Alaïs blieb auch, als Aurel einem schreienden alten Mann die Hämorrhoiden mit glühendem Eisen ausbrannte. Und sie blieb, wenn sich die Skrofulösen um sie scharten – halbblind und den Leib über und über mit Geschwüren bedeckt. Aurel meinte, es gebe gegen jene Krankheit eigentlich kein Mittel, doch er fühlte sich offenbar dazu berufen, der Erste zu sein, der ein solchesfand. Anstatt die stinkende Schar wegzuschicken, untersuchte er sie eingehend und schnitt manches Geschwür auf, um zu erkunden, was sich dahinter befand – gestocktes Blut, Eiter oder abgestorbene Haut.
Alaïs war stolz darauf, bei diesem Anblick nicht die Mahlzeit zu erbrechen, ja, irgendwann so abgebrüht zu sein, dass sie nicht einmal würgen musste oder sich die Nase zuhalten. Dennoch wurde sie mit der Zeit mürrischer. Mochte ihr Blick auf die Kranken nun geschulter sein, mochte sie immer häufiger darauf verzichten, Emy erst um Rat zu fragen, so blieb es doch ein ärgernis, dass Aurel ihre Hilfe einfach hinnahm, ohne sich jemals dafür zu bedanken. Der Reiz des Fremden und Neuen bestach sie nicht länger; Kitzel und Aufregung genügten ihr nicht mehr als Lohn für ihre Bemühungen, und ihre Laune verdüsterte sich in gleichem Maße, wie sie sich selbst an die außergewöhnlichsten Prozeduren gewöhnte. Doch weiterhin schien es für Aurel keinen Unterschied zu machen, ob nun sie es war oder Emy, der ihm hilfreich zur Hand ging. Anstatt über eine willige und kundige Helfershelferin begeistert zu sein, wurde er vielmehr selbst zunehmend griesgrämig.
Indessen Alaïs ihren Ärger zu bezähmen versuchte, brach der seine unerwartet aus ihm hervor. Die Behandlungen jener Tage würden ihn überfordern, begann er zu klagen. Um seine Kenntnisse weiter zu schulen, müsse er seine anatomischen Studien wieder aufnehmen! Was nützte, stets zu wiederholen, was er bereits beherrschte – er wolle Neues lernen!
Auch das noch, dachte Alaïs verdrießlich. Nach mühseligen Tagen, umgeben von verfaulenden Horden, war die Vorstellung von bei Leichen durchwachten Nächten nicht erregend und geheimnisvoll wie seinerzeit in Saint – Marthe, sondern eine Zumutung – womöglich eine zu viel.
Doch nicht sie war es, die Aureis Ansinnen heftig widersprach.
»Du hast Alaïs damit einmal in Schwierigkeiten gebracht«, sagte Emy. »Du tust es nicht wieder.«
Er flüsterte nur, doch zu Alaïs’ Erstaunen
Weitere Kostenlose Bücher