Die Gefährtin des Medicus
Saint – André in dessen Nachbarschaft. Erst jetzt nahm sie die vielen Soldaten wahr, die diesen Turm und somit auch den Eingang zur Brücke bewachten. Mochte man dem Papst eben eilig die Passage gewährt haben, sämtliche anderen Reisenden mussten erst eine lange Kontrolle über sich ergehen lassen, ehe sie die Stadt betreten durften. Das Stimmengewirr, das noch über den Fluss schwappte, bestand aus okzitanischen Lauten, wie sie im Gefolge des Papstes gesprochen wurden, aus provençalischem Dialekt, wie das einfache Volk ihn hier nutzte, und aus Französisch.
Alaïs lauschte aufmerksam. »Woher kommen die vielen Franzosen?«, fragte sie.
»Woher wohl?«, meinte Giacinto und klang nicht länger gefällig, sondern unfreundlich. »Hier, auf dieser Seite der Brücke, sind wir in der Grafschaft Venaissin, dort drüben ist bereits Frankreich.«
»Aber ich dachte, Avignon befindet sich auf provençalischem Boden.«
»Avignon ja – aber jener Teil der Stadt, der sich auf der anderen Seite der Rhône befindet, heißt Villeneuve und ist französisch. Auf französischem Boden sind wir auch hierher gekommen.«
»Deswegen die vielen Soldaten!«
Ehe sie eine weitere Frage stellen konnte, machte Giacintoeine müde Bewegung, um sie zum Schweigen zu bringen. Fortan blickte er durch sie hindurch, als wäre sie Luft.
Sie fühlte sich verloren, als der Zug endgültig zum Stehen kam. Giacinto sprang vom Wagen, und sie folgte ihm, ohne zu wissen, was sie erwarten würde, freilich vom unangenehmen Gefühl beschlichen, dass sich niemand darum scherte, was aus ihr wurde.
Es ist nur für eine Nacht, dachte sie wieder. Morgen würde sie mit Aurel und Emy zusammenstoßen, und wenn Giacinto auch keinerlei Interesse an ihr hatte, so geboten es doch Anstand und Sitten, ihr die Gastfreundschaft bis dahin nicht zu verwehren.
Der Anblick seines Hauses lenkte sie ohnehin von den Sorgen ab. Während die meisten anderen schmal und einstöckig waren, glich jenes einem Palast. So hoch waren die Steine übereinander gebaut, dass sie zurücktreten und den Kopf in den Nacken legen musste, um den Himmel zu erschauen. Waren die Fenster und Türen anderer Gebäude möglichst klein gehalten, um ihr Inneres vor der Sommerhitze zu bewahren, öffnete sich das Tor von Giacintos Heim so weit, dass die Wagen des Zuges mühelos in den Innenhof fahren konnten. Weniger breit, aber nicht minder hoch waren die Fenster, von Säulen gestützt, die in einen kunstvollen Bogen mündeten. Alaïs hatte gewiss noch nicht alles von dieser Stadt gesehen – und war sich doch sicher, dass es nicht viele Häuser wie dieses gab.
Im Innenhof plätscherte ein runder, aus hellem Stein gehauener Brunnen, über dessen Becken tief grüne Blätter und rote Blumen rankten.
So ins Schauen vertieft, bemerkte sie gar nicht, wie eine Frau auf sie zukam. Erst als diese sie am Arm packte, fuhr sie herum. Giacinto war verschwunden, indessen seine Männer die Lasten entluden und sie dabei keines Blickes würdigten.
»Bist du das Mädchen?«, fragte die Frau unwirsch.
Ihre Stimme klang älter und schnippischer, als ihr weiches Gesicht es verhieß. Sie hatte runde, leicht gerötete Wangen, eine hohe, glatte Stirn, die von hellblondem Haar eingerahmt war,und sie wäre eine Schönheit gewesen, wenn die Haut um das Kinn nicht bereits erschlafft gewesen wäre und die blauen Augen nicht derart zusammengekniffen gewirkt hätten.
»Ich bin Alaïs. Azalaïs Montpoix«, stellte sie sich rasch vor.
War das womöglich Giacintos Frau? Hatte er sie damit beauftragt, sich um den Gast zu kümmern?
Ihre Worte bestätigten es nicht. »Und ich bin Marguerite«, sagte die Fremde, doch es klang nicht freundlich, eher spöttisch, als wollte sie sich über Alaïs’ Vorstellung lustig machen. »Und nun komm mit!«
Alaïs folgte ihr über den Hof und musterte Marguerite unauffällig von der Seite. Nein, Giacintos Frau konnte sie nicht sein – zu einfach war das knöchellange Wollkleid mit den langen ärmeln, das sie trug. Freilich, der Gürtel war wiederum edler als der einer gewöhnlichen Dienstbotin. Das Unterkleid, das hervorblitzte, schien nicht aus grobem Leinen geschneidert, sondern aus feinerem, glänzenderem Stoff, und am Halsausschnitt war eine kurze Reihe von Stoffknöpfen angebracht, wie Alaïs sie nur selten gesehen hatte.
Über das Schauen hatte sie den Schritt verlangsamt. Ungeduldig drehte sich Marguerite nach ihr um.
»Nicht einschlafen, Mädchen, nun komm schon!«
Alaïs schloss
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