Die Gefangenen des Korallenriffs
größter Wichtigkeit war. Als die Erzgräber dann aus ihren unterirdischen Gefilden ans Licht gekommen waren und sich im Land der Käuer angesiedelt hatten, nahmen sie diese mächtigen Tiere mit. Sie hatten sie bereits gezähmt und verwandten sie nun zu schweren Arbeiten wie beispielsweise die Inder ihre Elefanten. Die Sechsfüßer wurden zu regelrechten Haustieren und weideten in der Freizeit friedlich auf den nahegelegenen Wiesen und Waldlichtungen. Nur bevorzugten sie im Gegensatz zu den Elefanten die Nachtzeit, weil sich ihre Augen in der langen Epoche ihres Lebens unter der Erde an die Höhlenfinsternis gewöhnt hatten.
Davon wußte Grau natürlich nichts. Größe und Aussehen der Tiere flößten ihm gehörigen Respekt ein, und er wollte besser nichts mit ihnen zu tun haben. Bloß gut, daß der Wind günstig steht, dachte er, sonst käme ich ganz schön in Schwierigkeiten.
Damit hatte er gar nicht so unrecht. Die Sechsfüßer glichen ihr schwaches Sehvermögen nämlich durch einen äußerst scharfen Geruchssinn aus, und der Höhlenlöwe war für sie ein Fremder. Im allgemeinen friedfertig, wären sie vielleicht auf ihn losgegangen. Wie damals, als sie noch ungezähmt waren und es den Tapferen Löwen hatten spüren lassen. Hätte Elli, die Fee des Tötenden Häuschens, die Angreifer nicht mit einer brennenden Fackel in die Flucht geschlagen – wer weiß, wie die Begegnung ausgegangen wäre.
Grau verfolgte die Sechsfüßer mit den Blicken, bis sie im Nebel verschwunden waren, und streckte sich erneut im Gras aus. Doch mit den Ungetümen hatte sich auch der Schlaf verflüchtigt. Zwar gähnte der Löwe, was das Zeug hielt, wälzte sich von einer Seite auf die andere, aber die Unruhe hielt ihn wach. Er fürchtete, weitere Tiere könnten auftauchen, und er sollte recht behalten!
Plötzlich gewahrte Grau ein paar kleine grüne Lichter, die etwa einen Meter über dem Erdboden zwischen den Bäumen dahinglitten. Er schaute genauer hin – und tatsächlich, verstohlen und klammheimlich huschten mehrere Schatten aus der Tiefe des Waldes direkt auf ihn zu. Sie kamen aus derselben Richtung wie die Sechsfüßer.
Grau zählte mindestens sechs solcher Schatten und dazu sechs Paar grüner Lichter. Er begriff, daß diese grünen Punkte nichts anderes waren als Augen, die zu großen, gefährlichen Raubtieren gehörten. Es sah so aus, als seien sie den Sechsfüßern auf der Spur.
Der Löwe brauchte nicht lange zu überlegen, um zu begreifen, daß er mitten in eine Jagd geraten war. Er stand gewissermaßen zwischen zwei Fronten, zwischen den Verfolgten und den Verfolgern. Tiere aber, die es wagten, sich mit den Sechsfüßern anzulegen, mußten mindestens genauso stark sein wie sie oder überaus geschickt.
Die Räuber waren inzwischen so dicht an Grau herangekommen, daß er sie erkennen konnte. Es handelte sich um Säbelzahntiger, um jene Tiere also, die er hatte aufspüren wollen. Wenn das kein Glück war! Gewiß, die Tiger waren mindestens zu sechst, doch dafür hatte er, Grau, einen unschätzbaren Vorteil: Er würde unverhofft auftauchen. Die Gegner, falls sie überhaupt etwas von seiner Existenz wußten, hatten ja nicht die leiseste Ahnung, daß sich ein Höhlenlöwe in ihrem Revier aufhielt. Und wenn es ganz hart käme, würden ihn wie schon öfter seine schnellen Beine retten.
Die Tiger, auf die Stärke ihres Rudels setzend, ließen keine besondere Vorsicht walten, scherten sich auch nicht um fremde Gerüche. Auf diese Weise blieb Grau unentdeckt. Mehr noch, die gefährlichen Großkatzen ließen sich unmittelbar neben Graus Unterschlupf nieder, um zu beraten.
»Es wird Zeit, Freunde«, erklärte mit heiserer Stimme der größte und gewichtigste der Tiger, offenbar der Anführer des Rudels, »daß wir beweisen, wer wir sind! Unsere Jagdgründe am Großen Fluß sind erschöpft, und wir hungern, doch der großmäulige Löwe, der sich noch immer der Tapfere nennt, verbietet uns, über die Herden der Menschen herzufallen. Der Löwe aber ist alt und schwach, deshalb halte ich den Augenblick für gekommen, die Macht in die eigenen Tatzen zu nehmen! Als erstes wollen wir Jagd auf die Sechsfüßer machen, dann das Land der Käuer überfallen. Diese Winzlinge werden es nicht wagen, sich uns zu widersetzen. Wir werden sie zwingen, uns als ihre Herren anzuerkennen, damit sie uns mit Essen und Trinken versorgen. Ein Hoch auf die Zähne und Krallen!«
»Ein Hoch auf die Zähne und Krallen!« knurrten zustimmend die anderen Tiger.
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