Die geheime Braut
der Eber musste sie nicht einmal anfallen. Er konnte sie einfach mit seinem Gewicht gegen die Wand drücken – und sie würde ihren letzten Atemzug tun.
Tatsächlich schien er Ähnliches vorzuhaben, denn der Abstand zwischen ihnen verringerte sich erneut.
Was konnte sie tun?
Das Gatter zur Freiheit lag genau entgegengesetzt, und an dem riesigen Koloss kam sie nicht vorbei. Sein Gestank hüllte sie wie eine dicke Wolke ein und betäubte sie.
Susanna spürte, wie sie zu würgen begann. Der Eber schien ihre Schwäche zu spüren und kam noch näher, während sie, so gut es ging, zurückwich.
Dabei stolperte sie, fiel – und fand sich plötzlich auf Augenhöhe mit dem Tier.
Der aufgerissene Fang mit den gefährlichen gelben Zähnen war direkt vor ihr. Ein übel riechender Atemschwall strömte ihr entgegen.
Sie musste das Tier ablenken – aber wie?
Sie holte aus und warf den Hasen, so weit sie nur konnte.
Der Eber lief ihm nach. Susanna nahm alle Kräfte zusammen und kam wieder hoch. Da schien der Eber seinen Irrtum zu bemerken und sich erneut nach ihr umdrehen zu wollen, doch dazu kam es nicht, denn Susanna packte seinen geringelten Schwanz und ließ ihn nicht mehr los.
Ein schrilles, empörtes Quieken, das auch zu einem Ferkel gepasst hätte. Dann begann er sich zu drehen, um sich von ihr zu befreien.
Susanna blieb nichts anderes übrig, als sich mitzudrehen, wollte sie nicht zerquetscht werden. Ihre Gedanken flogen mit im Kreis, schneller und immer schneller …
Da war plötzlich das rettende Gatter vor ihr.
Sie riss das Hemd hoch – und sprang.
Die Schienbeine waren zerschrammt, ihr ganzer Körper troff vor Schweiß. Ihr Tuch hatte sie verloren ebenso wie Hansis blauen Stoffhasen, den die Hufe zertrampelt hatten.
Die Talgfunzel war erloschen. Der bewusste Gestank nicht mehr als eine schwache Ahnung.
Hieß das, dass der Mörder sie noch einmal verschont hatte?
Oder war er feige davongelaufen, als sein perfider Plan einmal mehr nicht aufgegangen war?
Zitternd und wütend zugleich schüttelte Susanna den Kopf.
Sie atmete. Sie lebte. Und sie war auf der richtigen Spur.
Jan, dachte sie. Jan – wo bist du?
Eine Kraft durchströmte sie, wie sie sie bisher noch nie gespürt hatte. Der Attacke des Ebers war sie heil und nahezu unverletzt entkommen.
Wer oder was konnte sie jetzt noch aufhalten?
Sie würde Margarethas Mörder dingfest machen. Und sich selbst endlich von all dem befreien, was sie bislang eingeschränkt oder behindert hatte.
*
Die Wetten im Hurenhaus liefen schon eine ganze Zeit, und Marlein wollte unbedingt diejenige sein, die als Siegerin hervorging.
»Du wirst ihn nicht zu Gesicht bekommen«, sagte Els schnippisch. »Vergiss es! Keiner von uns ist das bislang ge lungen. Nur Griet kennt ihn. Und die schweigt wie ein Grab.«
»Ist er denn unsichtbar?«, fragte Marlein und setzte dabei ihre unschuldigste Miene auf. Sie lockte nicht nur das Silberstück, das der Siegerin winkte. Beweisen wollte sie es diesen Weibern, ihnen zeigen, mit wem sie es zu tun hatten. Sie sollten sie anerkennen, obwohl sie die Jüngste im Frauenhaus war. »Dann müsste er ja der Teufel sein, der solch ein Kunststück beherrscht.«
»Nein, aber zu verbergen hat er offenbar so einiges, sonst würden wir ihn ja kennen. Einmal hat Griet sich verraten und etwas von einer Maske gemurmelt«, sagte die dicke Isolde, zu der am liebsten die männlichen Jungfrauen kamen, weil sie sich deren Ängsten mütterlich annahm. »Vielleicht ist er ja schrecklich entstellt. Und deshalb so menschenscheu.«
»Vielleicht hat Griet sich ihn aber auch nur ausgedacht«, schrie Lorchen mit schriller Stimme. »Und es gibt gar keinen Patron, wie sie immer behauptet. Dann würde sie sich nämlich das ganze Geld in die eigene Tasche stecken. Und wir müssten Tag und Nacht den geilen Kerlen zu Diensten sein und bekämen dafür bloß einen Hungerlohn …«
Wenn die Huren auch heimlich mit Griet haderten, weil sie sich einer Frau beugen mussten, so gab es doch keine, die offen gegen sie aufgemuckt hätte.
Griet konnte jeden Raum mit ihrer Präsenz füllen. Sie musste dazu nicht einmal den Mund aufmachen, und schon war klar, wer hier das Sagen hatte.
Heute jedoch ging es ihr schlecht. Sie musste sogar im Bett bleiben, war fiebrig und matt und hatte sich von Isolde einen Schlaftrank aus Mohnsud geben lassen, um über die Nacht zu kommen und schnell wieder zu Kräften zu ge langen.
Die Gelegenheit, auf die Marlein lange gewartet hatte.
Es
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