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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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können, aber es zu hören machte mich seltsam glücklich und zufrieden mit der Welt.
     
    Im Rückblick ist es sonderbar, wie wenig Macht der tote Farmer über eine so morbide und empfängliche Phantasie wie die meine ausübte. Ich kann mir gut vorstellen, was für Alpträume man davon hätte bekommen können (ich öffne die Tür zu einem Traum-Klassenzimmer und sehe die gesichtslose Gestalt im Flanellhemd, wie sie zombiehaft aufrecht an einem Pult hockt oder sich vom Schreiben an der Tafel umdreht und mich angrinst), aber es ist vermutlich ziemlich verräterisch, daß ich selten überhaupt daran dachte – und wenn, dann nur, weil ich daran erinnert wurde. Ich glaube, die andern waren ebensowenig oder noch weniger beunruhigt, wie die Tatsache erkennen läßt, daß sie alle so lange Zeit hindurch so normal und so gut gelaunt weitergelebt hatten. So monströs es war, aber der Leichnam selbst schien wenig mehr als eine Requisite zu sein, etwas, das im Dunkeln von Bühnenarbeitern herausgetragen und Henry vor die Füße gelegt wurde, um dann entdeckt zu werden, wenn das Licht anging; die Vorstellung, wie die Leiche dumpf starrend in Blut und Hirnmasse lag, unterließ es nie, ein banges kleines Kribbeln hervorzurufen, aber sie schien doch relativ harmlos, verglichen mit der sehr realen und hartnäckigen Bedrohung, als die ich Bunny inzwischen erkannte.
    Bunny mochte den Anschein eines liebenswerten, unbeirrbar gleichförmigen Charakters erwecken, aber tatsächlich war er von wilder Unberechenbarkeit. Es gab eine ganze Reihe von Gründen dafür, aber der Hauptgrund war seine absolute Unfähigkeit, über irgend etwas nachzudenken, bevor er es tat. Geleitet nur durch die trüben Leuchtfeuer von Impuls und Gewohnheit, segelte er durch die Welt im Vertrauen darauf, daß sich auf seinem Kurs keine Hindernisse erheben würden, die so groß waren, daß sie nicht durch die bloße Wucht der Vorwärtsbewegung untergepflügt werden könnten. Aber in dieser neuen Situation, deren Umstände durch den Mord bestimmt waren, ließ sein Instinkt ihn im Stich. Jetzt, da die altvertrauten Fahrwassermarkierungen sozusagen im Dunkeln umgestellt worden waren, war der Autopilot, mit dessen Hilfe seine Psyche navigierte, unbrauchbar, und er trieb orientierungslos
umher, während die Wellen das Deck überspülten, lief über Sandbänke und schlug die bizarrsten Richtungen ein.
    Für einen beiläufigen Beobachter war er vermutlich ganz der alte - schlug den Leuten auf die Schulter, mampfte Kekse und Schokoriegel im Leseraum der Bibliothek und ließ lauter Krümel in die Bindung seiner Griechischbücher rieseln. Hinter dieser derben Fassade aber fanden ein paar gravierende und verhängnisvolle Veränderungen statt, Veränderungen, die ich bereits unbestimmt wahrgenommen hatte, die aber im Laufe der Zeit immer deutlicher wurden.
    In mancher Hinsicht war es, als sei überhaupt nichts passiert. Wir gingen in den Unterricht, übten Griechisch und schafften es weitgehend, untereinander und vor allen anderen so zu tun, als sei alles in Ordnung. Zu jener Zeit ermutigte es mich, daß Bunny, seiner offensichtlichen geistigen Verstörung zum Trotz, nichtsdestoweniger mühelos an der alten Routine festhielt. Heute sehe ich freilich, daß es nur die Routine war, die ihn noch zusammenhielt. Sie war der einzige Bezugspunkt, der ihm geblieben war, und er klammerte sich mit pawlowscher Hartnäckigkeit daran fest, teils aus Gewohnheit, und teils, weil er keinen Ersatz dafür hatte. Ich nehme an, die anderen hatten das Gefühl, daß die Fortführung der alten Rituale in mancher Hinsicht eine Charade um Bunnys willen war, die beibehalten wurde, um ihn zu beschwichtigen, aber ich spürte davon nichts, und ich ahnte auch nicht, wie verstört er wirklich war – bis zu dem folgenden Zwischenfall.
    Wir verbrachten das Wochenende in Francis’ Haus. Abgesehen von der kaum wahrnehmbaren Anspannung, die sich im Umgang mit Bunny zu jener Zeit spürbar machte, schien alles reibungslos zu laufen, und er war beim Essen an diesem Abend in bester Stimmung. Als ich zu Bett ging, saß er noch unten, trank den Wein, der vom Essen übrig war, und spielte mit Charles Backgammon – und allem Anschein nach war er ganz wie immer. Aber irgendwann mitten in der Nacht wurde ich durch lautes, unzusammenhängendes Gebrüll geweckt, das aus Henrys Zimmer durch den Korridor hallte.
    Ich setzte mich im Bett auf und knipste das Licht an. »Dir ist alles völlig scheißegal, was?« hörte ich

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