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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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auch nur viel Notiz davon nehmen würde. Cloke wohnte im Nachbarhaus neben meinem, dem Durbinstall; es war das betriebsame Zentrum dessen, was die Verwaltung gern als »rauschmittelbezogene Aktivitäten« bezeichnete, und Besuche dort wurden gelegentlich durch Explosionen oder kleine Brände unterbrochen, die durch einsame Fixer oder die Chemiestudenten, die im Keller arbeiteten, ausgelöst wurden. Zu unserem Glück wohnte er vorn im Erdgeschoß. Da er seine Jalousien nie herunterließ und in der unmittelbaren Umgebung keine Bäume standen, konnte man gefahrlos auf der etwa fünfzehn Meter entfernten Veranda der Bibliothek sitzen und sich des luxuriösen und ungehinderten Blicks auf Bunny erfreuen, wie er, eingerahmt von einem hellen Fenster, mit offenem Mund in ein Comic-Heft stierte oder mit fuchtelnden Armen auf einen unsichtbaren Cloke einredete.
    »Ich habe nur gern eine Ahnung davon«, erklärte Henry, »wohin er geht.« Aber eigentlich war es ganz einfach, Bunny im Auge zu behalten – weil er nämlich, glaube ich, ebenfalls nicht bereit war, die anderen und vor allem Henry lange aus den Augen zu lassen.
    Wenn er Henry mit Respekt behandelte, so waren wir anderen genötigt, die ermüdende Alltagslast seiner Wut zu tragen. Unentwegt
suchte er nach Angriffsflächen für seine Sticheleien, und er machte vor nichts und niemand halt. Die katholische Herkunft der Zwillinge, Charles’ Hang zum Alkohol, Francis’ mutmaßliche Homosexualität - dies alles waren ihm willkommene Aufhänger für immer neue, zermürbende Anspielungen, Gemeinheiten und verletzende Scherze. Und am schlimmsten war: Es gab absolut nichts, was irgend jemand sagen oder tun konnte.
    Man möchte vielleicht erwarten, daß ich, der ich zu jener Zeit völlig unschuldig irgendwelcher Verbrechen gegen Bunny oder die Menschlichkeit war, selbst nicht zur Zielscheibe dieses unablässigen Heckenschützenfeuers geworden sei. Aber unglücklicherweise wurde ich es doch – zu seinem Unglück vielleicht eher als zu meinem. Wie konnte er so blind sein, daß er nicht erkannte, wie gefährlich es für ihn werden mochte, den einen Unparteiischen, seinen einzigen potentiellen Verbündeten, vor den Kopf zu stoßen? Denn, so gern ich die anderen hatte, ich mochte auch Bunny gern, und ich hätte mich nicht annähernd so schnell auf die Seite der anderen gestellt, wenn er sich nicht so wütend gegen mich gewandt hätte. Vielleicht gab es in seinem Kopf eine Rechtfertigung für seine Eifersucht – seine Position in der Gruppe war ungefähr im selben Moment ins Rutschen geraten, als ich aufgetaucht war. Seine Abneigung war von der kleinlichsten und kindischsten Sorte und wäre zweifellos nie zum Vorschein gekommen, wenn er nicht in einem so paranoiden Zustand gewesen wäre, daß er zwischen Freunden und Feinden nicht mehr unterscheiden konnte.
    Schritt für Schritt begann ich, ihn zu verabscheuen. Rücksichtslos wie ein Vorstehhund, witterte er mit flinkem und unermüdlichem Instinkt alles auf der Welt, was mich mit größter Unsicherheit erfüllte, alles, was ich am qualvollsten zu verbergen suchte. Es gab bestimmte, oft wiederholte, sadistische Spiele, die er mit mir spielte. Es machte ihm Spaß, mich zum Lügen zu verführen: »Prachtvolle Krawatte«, sagte er etwa. »Von Hermes, nicht wahr?« – und wenn ich bejahte, langte er flink über den Eßtisch und entblößte die niedere Herkunft meines armen Schlipses. Oder er brach plötzlich mitten in einer Unterhaltung ab und sagte: »Richard, mein Alter, wieso hast du eigentlich keine Bilder von deiner Familie bei dir?«
    Das war genau die Art von Details, auf die er sich stürzte. Sein eigenes Zimmer war erfüllt von einem Arrangement makelloser Familienerinnerungen, jedes einzelne Stück so perfekt wie in einer
Werbeserie: Bunny und seine Brüder, wie sie auf einem leuchtend schwarzweißen Spielfeld Lacrosse-Schläger schwenkten; Familienweihnachten, ein cooles, geschmackvolles Elternpaar in teuren Bademänteln, fünf kleine, flachsblonde Jungen in identischen Pyjamas, die sich mit einem tolpatschigen Spaniel auf dem Boden wälzten, eine lächerlich üppige elektrische Eisenbahn und der Baum, der sich reich im Hintergrund erhob; Bunnys Mutter auf dem Debütantinnenball, jung und die Welt verachtend in weißem Nerz.
    »Was denn?«« fragte er mit gespielter Unschuld. »keine Kameras in Kalifornien? Oder sollen deine Freunde Mom nicht im Polyester-Hosenanzug sehen? Wo haben deine Eltern überhaupt studiert?«

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