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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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er sich in derselben Art, und ohne aus dem Takt zu geraten, in seinem Sessel zurück und rückte mit etwas so Furchtbarem, so Heimtückischem, so Unbeantwortbarem heraus, daß ich mir schwor, es nie zu vergessen und ihm nie wieder zu verzeihen. Viele Male brach ich diesen Schwur. Und noch heute kann ich für Bunny nichts aufbringen, was Ähnlichkeit mit Zorn hätte. Im Gegenteil, ich wüßte kaum etwas, das mir besser gefiele, als wenn er jetzt ins Zimmer käme, mit beschlagener Brille und nach feuchter Wolle riechend, sich den Regen aus dem Haar schüttelte wie ein alter Hund und sagte: »Dickie, mein Junge, was hast du heute abend für einen durstigen alten Mann zu trinken?«
    Man möchte gern glauben, daß etwas dahintersteckt, hinter der alten Platitüde Amor vincit omnia. Aber wenn ich in meinem kurzen, traurigen Leben eines gelernt habe, dann, daß diese spezielle Platitüde eine Lüge ist. Die Liebe besiegt nicht alles. Und wer glaubt, sie tut es, ist ein Dummkopf.
     
    Camilla quälte er einfach, weil sie ein Mädchen war. In mancher Hinsicht war sie seine verwundbarste Zielscheibe – nicht durch eigene Schuld, sondern weil Frauen in der griechischen Welt, allgemein gesprochen, geringere Geschöpfe sind, die man sehen, aber nicht hören soll. Diese unter den Argivern verbreitete Auffassung ist so beherrschend, daß sie an den Gebeinen der Sprache selbst klebt; mir fällt keine bessere Illustration dafür ein als die Tatsache, daß einem der ersten Axiome der griechischen Grammatik zufolge, die ich gelernt habe, Männer Freunde haben, Frauen Verwandte und Tiere ihre Art.
    Bunny – nicht etwa dem Drang nach hellenistischer Reinheit gehorchend, sondern aus bloßer Gemeinheit – war ein Verfechter dieser Ansicht. Er mochte die Frauen nicht, genoß ihre Gesellschaft nicht, und sogar Marion, nach eigenem Bekunden seine raison d’être, wurde nur widerwillig als Konkubine toleriert. Camilla gegenüber sah er sich gezwungen, eine eher paternalistische Haltung einzunehmen; mit der Herablassung eines alten Papas strahlte er auf sie herab wie auf ein schwachsinniges Kind. Vor uns übrigen klagte er, Camilla habe auf dem College nichts zu suchen; sie sei eine Behinderung für jede ernste Wissenschaft. Wir alle
fanden das ziemlich komisch. Um ehrlich zu sein, keiner von uns, auch der Hellste nicht, war in den folgenden Jahren für akademische Leistungen bestimmt; Francis war zu faul, Charles zu zerstreut und Henry zu unstet und überhaupt zu sonderbar, eine Art Mycroft Holmes der klassischen Philologie. Camilla war nicht anders; insgeheim bevorzugte sie wie ich die mühelosen Freuden der englischen Literatur vor der Kuliarbeit des Griechischen. Lachhaft war, daß ausgerechnet der arme Bunny sich besorgt um die intellektuellen Kapazitäten anderer äußern mußte.
    Das einzige weibliche Wesen in einem Jungenclub zu sein, muß schwierig für sie gewesen sein. Wunderbarerweise aber kompensierte sie dies nicht dadurch, daß sie hart oder streitsüchtig wurde. Sie war immer noch ein Mädchen, ein zierliches, reizendes Mädchen, das im Bett lag und Pralinen aß, dessen Haar nach Hyazinthen duftete und dessen weiße Schals munter im Wind flatterten – so bezaubernd und klug wie je nur ein Mädchen auf der Welt. Aber so seltsam und wunderbar sie sein mochte – ein Seidenflöckchen in einem Wald aus schwarzer Wolle –, sie war doch ganz und gar nicht das zerbrechliche Geschöpf, als das sie einem vielleicht erscheinen mochte. In vieler Hinsicht war sie so cool und kompetent wie Henry, ebenso hartgesotten und einzelgängerisch in ihren Gewohnheiten, und in manchen Dingen ebenso abgehoben wie er. Draußen auf dem Lande war es nicht ungewöhnlich, zu entdecken, daß sie davongehuscht war, allein zum Teich etwa oder in den Keller, wo ich sie einmal auf dem großen dort unten gestrandeten Schlitten sitzen und lesen sah, den Pelzmantel über den Knien. Ohne sie wäre alles schrecklich seltsam und unausgewogen gewesen. Sie war die Dame, die das Blatt mit den schwarzen Buben, dem schwarzen König und dem Joker vollendete.
    Wenn ich die Zwillinge so faszinierend fand, dann vermutlich, weil sie eine winzige Unerklärlichkeit an sich hatten, etwas, das ich oft fast greifen konnte, dann aber doch nie erfaßte. Charles, diese freundliche und leicht ätherische Seele, die er war, erschien gleichfalls rätselhaft, aber Camilla war das eigentliche Geheimnis, der Safe, den ich nicht knacken konnte. Ich war nie sicher, was sie von

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