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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Augenhöhle herum.
     
    Ich putzte mir die Zähne, zog mich an und lief eilig hinaus; der erste Bekannte, den ich sah, war Julian auf dem Weg zum Lyzeum.
    In unschuldig chaplineskem Erstaunen fuhr er zurück. »Du meine Güte«, sagte er, »was ist denn mit Ihnen passiert?«
    »Haben Sie heute morgen schon was gehört?«
    »Aber nein«, sagte er und musterte mich neugierig. »Dieses Auge. Sie sehen ja aus, als seien Sie in eine Kneipenschlägerei geraten.«
    Zu jeder anderen Zeit wäre es mir zu peinlich gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen, aber ich hatte das Lügen so satt, daß es mich drängte, einmal die Wahrheit zu sagen, wenigstens in dieser Kleinigkeit. Also erzählte ich ihm, was passiert war.
    Seine Reaktion überraschte mich. »Also war es tatsächlich eine Schlägerei«, sagte er mit kindlichem Entzücken. »Wie aufregend. Sind Sie denn verliebt in sie?«
    »Ich fürchte, ich kenn’ sie gar nicht allzu gut.«
    Er lachte. »Du liebe Zeit, Sie sind aber heute wahrheitsliebend«, sagte er mit bemerkenswertem Scharfblick. »Das Leben ist plötzlich schrecklich dramatisch geworden, nicht wahr? Ganz wie in einem Roman ... Übrigens, habe ich Ihnen erzählt, daß gestern nachmittag ein paar Männer bei mir waren?«
    »Wer denn?«
    »Es waren zwei. Einer der beiden war Italiener, sehr charmant ... beinahe höflich auf eine seltsame Art. Das Ganze war ziemlich verwunderlich. Sie sagten, Edmund habe Drogen genommen.«
    »Was?«
    »Finden Sie das merkwürdig? Ich finde es sehr merkwürdig.«
    »Was haben Sie denn gesagt?«
    »Ich habe gesagt, es sei ganz ausgeschlossen. Vielleicht schmeichle ich mir, aber ich bilde mir ein, Edmund recht gut zu kennen ... Ich kann mir nicht vorstellen, daß er so etwas tut, und außerdem sind junge Leute, die Drogen nehmen, immer so dumm
und langweilig. Aber wissen Sie, was dieser Mann zu mir sagte? Er sagte, bei jungen Leuten kann man nie wissen. Ich glaube nicht, daß es stimmt, oder? Finden Sie, daß es stimmt?«
    Wir schlenderten durch das Commons – ich hörte das Krachen des Geschirrs oben im Speisesaal –, und unter dem Vorwand, ich hätte an diesem Ende des Campus etwas zu erledigen, ging ich mit Julian bis zum Lyzeum.
    Dieser Teil des Schulgeländes, an der nach North Hampden gelegenen Seite, lag sonst immer friedlich und verlassen da, und der Schnee unter den Fichten war unberührt und frei von Fußspuren bis zum Frühling. Aber jetzt war alles zertrampelt und von Abfall übersät wie ein Spielplatz. Jemand war mit einem Jeep gegen eine Ulme gefahren – zerbrochenes Glas, ein verbogener Kotflügel, eine klaffend gelbe Wunde im Stamm. Eine rüpelhafte Schar von Stadtgören rodelte kreischend auf einem Pappdeckel den Hang hinunter.
    »Meine Güte«, sagte Julian. »Diese armen Kinder.«
    Ich verabschiedete mich an der Hintertür des Lyzeums von ihm und ging zu Dr. Rolands Büro. Es war Sonntag, und er war nicht da; ich ging hinein, schloß hinter mir ab und verbrachte den Nachmittag in glücklicher Abgeschiedenheit: Ich korrigierte Aufsätze, trank schlammigen Filterkaffee aus einem Becher mit der Aufschrift RHONDA und hörte mit halbem Ohr die Stimmen weiter unten im Korridor.
    Mir schwante, daß diese Stimmen klar zu hören waren und daß ich tatsächlich hätte verstehen können, was sie redeten, wenn ich darauf geachtet hätte, aber das tat ich nicht. Erst später, als ich gegangen war und sie völlig vergessen hatte, erfuhr ich, wem sie gehört hatten und daß ich vielleicht an diesem Nachmittag nicht ganz so sicher gewesen war, wie ich mich fühlte.
     
    Die FBI-Leute, sagte Henry, hatten ihr provisorisches Hauptquartier in einem leeren Seminarraum eingerichtet, der am selben Korridor wie Dr. Rolands Büro lag, und dort, keine fünf Meter weit von mir entfernt, vernahmen sie Henry. In dem Seminarraum (erzählte Henry) waren eine mit quadratischen Gleichungen bedeckte Tafel, zwei volle Aschenbecher und ein langer Konferenztisch, an dem sie zu dritt saßen. Außerdem waren da ein Laptop-Computer, eine Dokumentenmappe mit den FBI-Insignien in Gelb und eine Schachtel mit Ahornsirupkandis in gerieften Papierhütchen. Sie gehörte dem Italiener. »Für meine Kinder«, sagte er.
    Henry hatte seine Sache natürlich wunderbar gemacht. Das sagte er nicht, aber das brauchte er auch nicht zu sagen. Er war in gewissem Sinne der Autor dieses Dramas, und er hatte eine ganze Weile in den Kulissen auf den Augenblick gewartet, da er auf die Bühne treten und die Rolle übernehmen

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