Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
auf, wohin ich auch blickte; überall kamen Bunnys aus den Ecken), und es war, als könne man in die Zukunft schauen und sehen, wie Bunny mit fünfunddreißig ausgesehen hätte – ganz so, wie man ihn mit sechzig sah, wenn man seinen Vater anschaute. Ich kannte ihn, und er kannte mich nicht. Ich fühlte den starken, fast unwiderstehlichen Drang, ihn beim Arm zu fassen und ihm etwas zu sagen – was, wußte ich nicht: Nur um zu sehen, wie seine Brauen sich auf diese plötzliche Art zusammenzogen, die ich so gut kannte, und um den verblüfften Ausdruck in seinen naiven, trüben Augen zu sehen.
Ich war’s, der die alte Pfandleiherin und ihre Schwester Lisaweta mit einer Axt erschlug und sie beraubte.
Gelächter, Schwindelgefühle. Immer wieder schlenderten Fremde heran und stellten mir Fragen. Ich eiste mich von einer von
Bunnys jungen Cousinen los – sie hatte gehört, daß ich aus Kalifornien war, und hatte angefangen, mir eine Menge höchst komplizierter Fragen über das Surfen zu stellen –, schwamm durch die dümpelnde Menge und suchte Henry. Er stand allein vor einer Glastür, mit dem Rücken zum Zimmer, und rauchte eine Zigarette.
Ich blieb neben ihm stehen. Er sah mich nicht an und sagte auch nichts. Hinter der Glastür lag eine kahle, flutlichtüberstrahlte Terrasse – schwarze Asche, Liguster in Betonkübeln, die weißen Trümmer einer zerbrochenen Statue auf dem Boden. Regen wehte schräg durch das Licht der Lampen, die so angebracht waren, daß sie lange, dramatische Schatten warfen. Es war ein modischer postnuklearer Effekt, aber auch ein antiker- wie in einem aschebedeckten Atrium in Pompeji.
»Das ist der häßlichste Garten, den ich je gesehen habe«, sagte ich.
»Ja«, sagte Henry. Er war sehr bleich. »Schutt und Asche.«
Hinter uns redeten und lachten die Leute. Der Lichtschein, der durch das regennasse Fenster fiel, malte das Muster rinnnender Tröpfchen auf sein Gesicht.
»Vielleicht solltest du dich lieber hinlegen«, meinte ich nach einer Weile.
Er biß sich auf die Lippe. Die Asche an seiner Zigarette war über zwei Zentimeter lang. »Ich habe keine Medizin mehr«, sagte er.
Ich sah ihn von der Seite an. »Kommst du zurecht?«
»Ich schätze, das werde ich müssen, nicht wahr?« sagte er regungslos.
Camilla schloß die Badezimmertür hinter uns ab, und zu zweit ließen wir uns auf Hände und Knie nieder und fingen an, den Wust von Medikamentenflaschen unter dem Waschbecken zu durchwühlen.
»›Gegen hohen Blutdruck‹«, las sie vor.
»Nein.«
»›Gegen Asthma‹.«
Es klopfte.
»Besetzt«, rief ich.
Camilla hatte den Kopf neben den Wasserleitungen in den Schrank geschoben und streckte den Hintern in die Luft. Ich hörte die Medizinfläschchen klirren. »›Innenohr‹?« fragte sie; ihre Stimme klang dumpf. »›Eine Kapsel zweimal täglich‹?«
»Zeig mal.«
Sie reichte mir ein Röhrchen Antibiotika heraus, mindestens zehn Jahre alt.
»Das geht nicht«, sagte ich und rutschte näher heran. »Ist da nichts mit einem ›Nicht nachfüllen‹-Auflcleber? Von einem Zahnarzt zum Beispiel?«
»Nein.«
»›Kann zu Benommenheit führen‹? ›Nicht Auto fahren oder schwere Maschinen führen‹?«
Wieder klopfte jemand an die Tür und rüttelte an der Klinke. Ich klopfte zurück, richtete mich dann auf und drehte beide Wasserhähne voll auf.
Aber wir fanden nichts. Wenn Henry an Giftefeu-Allergie gelitten hätte, an Heuschnupfen, Rheuma, Bindehautentzündung, hätten wir Erfolg gehabt, aber das einzige Schmerzmittel hier war Excedrin. Aus blanker Verzweiflung nahm ich eine Handvoll mit, außerdem zwei Kapseln von unklarer Bestimmung, deren Flasche zwar den »Vorsicht, Benommenheit«-Aufkleber trug, die aber vermutlich Antihistamine enthielten.
Ich hatte gedacht, der klopfende Unbekannte sei verschwunden, aber als ich hinausspähte, sah ich zu meinem Ärger, daß Cloke draußen herumlungerte. Er warf mir einen verachtungsvollen Blick zu, der sich in ein Glotzen verwandelte, als Camilla – zerzaust und ihren Rock zurechtziehend – hinter mir herauskam.
Wenn sie überrascht war, ihn zu sehen, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Oh, hallo«, sagte sie zu ihm, und sie bückte sich und klopfte sich Staub von den Knien.
»Hallo.« Er schaute bemüht beiläufig zur Seite. Wir alle wußten, daß Cloke sich irgendwie für sie interessierte, aber selbst wenn er es nicht getan hätte, gehörte Camilla nicht gerade zu der Sorte Mädchen, von der man erwartete, daß
Weitere Kostenlose Bücher