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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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ruhig wegnehmen. Von ihm aus könnte der Richter sie beide für fünfzig Jahre in den Knast stecken. Und Herny – na, du kannst dir vorstellen, wie Henry darauf reagierte. Er explodierte. Der Anwalt war überzeugt, daß sie beide den Verstand verloren hätten. Er bemühte sich immer wieder, Charles zu beruhigen und ihn zur Vernunft zu bringen. Und Charles sagte: ›Es ist mir egal, was mit ihm passiert. Von mir aus kann er sterben. Ich wünschte, er wäre tot.‹«
    Es wurde so schlimm, erzählte sie, daß der Anwalt sie schließlich hinauswarf. Überall am Korridor gingen die Türen auf – ein Versicherungsagent, ein Steuerberater, ein Zahnarzt im weißen Kittel, alle steckten die Köpfe heraus, um zu sehen, was der Aufruhr zu bedeuten hatte. Charles stürmte davon – ging zu Fuß nach Hause, nahm sich ein Taxi, sie wußte es nicht.
    »Und Henry?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Er war wütend«, sagte sie; ihre Stimme klang erschöpft und hoffnungslos. »Ich wollte ihm zum Wagen nachgehen, aber der Anwalt nahm mich beiseite. ›Hören Sie‹, sagte er, ›ich kenne die Hintergründe nicht, aber Ihr Bruder ist offensichtlich schwer gestört. Bitte versuchen Sie ihm zu erklären, daß er sehr viel mehr Schwierigkeiten bekommen wird, als er sich so denkt, wenn er sich nicht beruhigt. Dieser Richter wird nicht besonders freundlich zu den beiden sein, selbst wenn sie wie zwei
Lämmchen hereinspaziert kommen. Es ist so gut wie sicher, daß Ihr Bruder die Auflage bekommt, sich einer Alkoholtherapie zu unterziehen, was nach dem, was ich heute gesehen habe, vermutlich nicht mal eine schlechte Idee wäre. Es besteht eine ziemlich gute Chance, daß der Richter ihm Bewährung gibt, aber allzusehr würde ich mich nicht darauf verlassen wollen. Ja, es ist sogar mehr als wahrscheinlich, daß er doch eine Gefängnisstrafe bekommt oder in die geschlossene Abteilung des Entzugszentrums drüben in Manchester eingewiesen wird.‹«
    Sie war zutiefst erregt. Francis war aschgrau im Gesicht.
    »Was sagt Henry denn?« fragte ich sie.
    »Er sagt, das Auto ist ihm egal«, antwortete sie. »Ihm ist alles egal. ›Laß ihn in den Knast gehen‹, sagt er.«
    »Hast du den Richter gesehen?« fragte Francis mich.
    »Ja.«
    »Wie war er denn?«
    »Um die Wahrheit zu sagen, er schien ein ziemlich scharfer Hund zu sein.«
    Francis zündete sich eine Zigarette an. »Was würde passieren«, sagte er, »wenn Charles nicht erscheint?«
    »Weiß ich nicht genau. Aber ich bin fast sicher, daß sie ihn dann suchen werden.«
    »Und wenn sie ihn nicht finden?«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Ich denke, wir sollten Charles für eine Weile aus der Stadt schaffen«, sagte Francis. Er wirkte angespannt und besorgt. »Die Schule ist fast zu Ende. Es ist ja nicht so, daß ihn irgend etwas hier festhielte. Ich finde, wir sollten ihn für ein, zwei Wochen zu meiner Mutter und Chris nach New York packen.«
    »So, wie er sich jetzt aufführt?«
    »Mit seiner Trinkerei? Glaubst du, meine Mutter hat etwas gegen Trinker? Er wäre da so sicher wie ein Baby.«
    »Ich glaube nicht«, sagte Camilla, »daß du ihn überreden kannst zu fahren.«
    »Ich könnte ihn selber hinbringen«, sagte Francis.
    »Aber was ist, wenn er abhaut?« gab ich zu bedenken. »Vermont ist eine Sache, aber in New York könnte er eine Menge Trouble kriegen.«
    »Okay«, sagte Francis gereizt. »Okay. War ja nur eine Idee.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Wißt ihr, was wir machen könnten? Wir könnten ihn aufs Land bringen.«
    »In dein Haus, meinst du?«
    »Ja.«
    »Und was soll das bringen?«
    »Zum einen wäre es kein Problem, ihn hinzuschaffen. Und wenn er einmal draußen ist, was macht er dann? Er hat kein Auto. Es ist meilenweit von jeder Straße weg. Kein Hampdener Taxifahrer wird dich da abholen, nicht für Geld und gute Worte.«
    Camilla sah ihn nachdenklich an.
    »Charles ist gern auf dem Land«, sagte sie.
    »Ich weiß.« Francis war erfreut. »Was könnte einfacher sein? Und wir brauchen ihn ja nicht lange dazulassen. Außerdem könneten Richard und ich bei ihm bleiben. Ich kaufe eine Kiste Champagner. Wir lassen es aussehen wie eine Party.«
     
    Es war nicht leicht, Charles an die Tür zu holen. Wir klopften, wie es schien, eine halbe Stunde lang. Camilla hatte uns einen Schlüssel gegeben, aber wir wollten ihn nicht benutzen, wenn es nicht unbedingt nötig wäre; als wir erwogen, es doch zu tun, schnappte der Riegel zurück, und Charles spähte durch den Türspalt

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