Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
sah, der am Rand einer Jalousie brannte. Wie lange ich ihn angeschaut hatte, weiß ich nicht, aber allmählich wurde mir bewußt, daß es Morgen war, daß die Schmerzen ein wenig nachgelassen hatten und daß ich mich einigermaßen bewegen konnte. Ich merkte auch, daß ich außergewöhnlichen Durst hatte. In meinem Krug war kein Wasser; also stand ich auf, zog meinen Bademantel an und ging hinaus, um mir etwas zu trinken zu holen.
Mein Zimmer und das von Bunny lagen an den gegenüberliegenden Seiten eines ziemlich großartigen Salons – fünf Meter hoch, mit einem Deckenfresko nach Art von Carracci, prachtvollen Stuckfriesen und französischen Fenstern, die auf den Balkon hinausführten. Ich war fast geblendet vom Morgenlicht, aber ich konnte eine Gestalt erkennen, die Bunny sein mußte. Sie saß an meinem Schreibtisch, über Bücher und Papiere gebeugt. Ich wartete, bis ich klarer sehen konnte, und hielt mich mit einer Hand am Türknopf fest, und dann sagte ich: ›Guten Morgen, Bun.‹
Na, er sprang auf, als hätte man ihn mit kochendem Wasser übergossen, und wühlte hastig in den Papieren, als wollte er etwas verstecken, und ganz plötzlich war mir klar, was er da hatte. Ich ging hin und riß es ihm aus der Hand. Es war mein Tagebuch. Er schnüffelte ständig herum und versuchte, einen Blick hineinzuwerfen; ich hatte es hinter einem Heizkörper versteckt, aber vermutlich hatte er in meinem Zimmer herumgewühlt, während ich krank gewesen war. Er hatte es schon einmal gefunden, aber da ich es in latein schreibe, hatte er vermutlich nicht viel Sinn hineinbringen
können. Ich benutzte nicht einmal seinen richtigen Namen; Cuniculus molestus, fand ich, traf ganz gut. Und das würde er ohne Lexikon nie herausfinden.
Aber leider hatte er während meiner Krankheit reichlich Gelegenheit gehabt, sich eins zu beschaffen. Ein Lexikon, meine ich. Und ich weiß, daß wir uns über Bunny lustig machen, weil er so ein gräßlicher Lateiner ist, aber er hatte es doch geschafft, eine ziemlich ordentliche Übersetzung der neueren Einträge anzufertigen. Ich muß sagen, ich hätte mir nicht träumen lassen, daß er dazu in der Lage wäre. Er mußte tagelang daran gearbeitet haben.
Ich war nicht einmal wütend. Ich war viel zu verdattert. Ich starrte die Übersetzung an – sie lag vor mir –, und dann starrte ich ihn an, und ganz plötzlich schob er seinen Stuhl zurück und fing an, mich anzubrüllen. Wir hätten diesen Burschen umgebracht, schrie er, hätten ihn kaltblütig umgebracht und es nicht mal für nötig gehalten, ihm davon zu erzählen, aber er habe die ganze Zeit gewußt, daß da etwas faul sei, und was bildete ich mir eigentlich ein, ihn als Kaninchen zu bezeichnen, und er habe nicht übel Lust, schnurstracks zum amerikanischen Konsulat zu gehen und die Polizei zu rufen ... Da schlug ich ihm ins Gesicht, und zwar mit aller Kraft.« Henry seufzte. »Das hätte ich nicht tun sollen. Ich tat es nicht mal aus Wut, sondern aus Frustration. Ich war angewidert und erschöpft, ich hatte Angst, daß jemand ihn hören könnte, und ich dachte, ich könnte es keine Sekunde länger aushalten.
Und ich hatte ihn härter geschlagen, als ich wollte. Sein Mund klappte auf. Meine Hand hatte ein großes weißes Mal auf seiner Wange hinterlassen. Ganz plötzlich strömte das Blut hinein und färbte es leuchtend rot. Er fing an zu schreien, kreischte mich völlig hysterisch an und schlug blindlings auf mich ein. Man hörte schnelle Schritte auf der Treppe und dann ein lautes Hämmern an der Tür, begleitet von einem wirren Schwall Italienisch. Ich packte das Tagebuch und die Übersetzung und warf beides in den Kamin – Bunny wollte sich daraufstürzen, aber ich hielt ihn fest, bis es brannte –, und dann öffnete ich die Tür und erklärte dem Zimmermädchen, das vor mir stand, daß alles schon in Ordnung sei und sie solle uns doch bitte das Frühstück bringen.
Bunny machte ein ziemlich verdutztes Gesicht. Er wollte wissen, was ich dem Mädchen gesagt hätte, aber mir war übel, und ich war wütend, und so gab ich keine Antwort. Ich ging in mein Zimmer zurück und schloß die Tür hinter mir, und ich blieb dort,
bis das Mädchen mit dem Frühstück kam. Sie deckte den Tisch auf dem Balkon, und wir gingen hinaus, um zu essen.
Seltsamerweise hatte Bunny wenig zu sagen. Nach kurzem, angespanntem Schweigen erkundigte er sich nach meinem Befinden; er erzählte, was er getrieben hatte, während ich krank gewesen war, und äußerte
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