Die geheime Mission des Nostradamus
den Jungen genau deuten. Geistig gestört, kränklich, dann der Tod, und das in nicht allzu ferner Zukunft. Als er den Leib des Kindes eingehend musterte, waren die Zeichen unverkennbar, selbst für einen Menschen, der kein Mystiker war. Die Mutter muß sie auch sehen, dachte er, und alle Welt sagt ihr, daß sie sich irrt. Darum hat sie nach mir geschickt. Sie will es wissen, und dennoch kann man es ihr nicht sagen. Der Dreizehnjährige war zu klein, der Kopf aufgedunsen, die Augen leer und einfältig, das Gesicht von eitrigen Pusteln zerfressen. Während er den Doktor beobachtete, wischte sich der Junge die laufende Nase am Ärmel.
»Laufen die Ohren auch?« fragte Nostradamus.
»Eine Erkältung, nichts Schlimmes«, antwortete der Erzieher des Dauphins. Doch Nostradamus hatte mit geübtem Blick die Vorderzähne des Knaben gesehen, als dieser schniefte. Eingekerbt. Die Familie war erbkrank. Welchen Wahnwitz, welche Zerstörung würden diese Kinder vor ihrem unvermeidlichen Ende anrichten? Die italienische Krankheit hatte sich in den Stammbaum der Valois eingeschlichen, und diese unterentwickelten, fahlgesichtigen Kinder waren zu einem Leben in Elend und Kummer verdammt. Die einzige Frage war, wie lange die Krankheit dauern und welche Form sie annehmen würde. Die Mutter muß es wissen, dachte der alte Prophet. Im tiefsten Inneren weiß sie es, und sie wird dagegen bis zum bitteren Ende kämpfen. Sie wird planen, intrigieren und sich abmühen, um aus ihnen etwas zu machen, was sie nicht sind. Sie sind alles, was sie hat. Und ich, der sein behagliches Heim schätzt, ich kann es ihr auch nicht sagen. »Dieser Knabe ist dazu bestimmt, ein bedeutender König zu werden«, sprach er feierlich. Alle Damen nickten, und Geplauder schwirrte durch den Raum.
Der Reihe nach untersuchte er die Thronerben, vier Jungen, einer noch schlimmer dran als der andere. Der dreizehnjährige Franz war bereits sichtbar krank, und beim Anblick des sechs Jahre alten Charles mit seinem spitzen kleinen Mausgesicht und den boshaften Augen fühlte sich der alte Mann an den kleinen Caligula erinnert. Aha, der hier ist hübscher – aber nein, was ist nur mit seiner Seele? Und sie glaubt, dieser hier, Heinrich, sei normal, dachte der Prophet. Dann war da noch das Kleinkind Herkules mit dem verräterisch großen Kopf. Und dann ein Mädchen, Elisabeth, mit Elfengesicht und klugen Augen, aber auch sie gezeichnet, und eine jüngere Tochter, Claude, mit seltsam verdrehten Gliedmaßen. Und ein kleines Mädchen im Laufgeschirr, fröhlich und keck. Unfruchtbar von Geburt an, besagte ihre Aura. Die schenkt keinem Mann einen Erben.
Ah, hier kommt die Ausnahme, sagte sich der alte Mann, als er einer hochgewachsenen tizianroten Vierzehnjährigen mit rosigem Teint und klaren, funkelnden Augen vorgestellt wurde. Die Königin der Schotten, die künftige Braut des Erben, ist gesund und wohlgeformt. In ihr erkenne ich das Guise-Blut, aufgehellt durch die rötlich-goldene Kraft der schottischen Linie. Kein Wunder, daß sie der Liebling des Königs ist. Er glaubt, daß sie mit ihrer Gesundheit seine Blutlinie erneuern könne. »Zu spät«, seufzte Anaels Stimme in seinem Ohr, doch der alte Prophet zwang sich zur Heuchelei, erzählte allen, daß sie eine ruhmreiche Zukunft erwarte, strahlte und verbeugte sich vor der Menge ringsum. Alsdann ließ er sich viel Zeit mit der Niederschrift seiner Bemerkungen in einer Kurzschrift, die er selbst erfunden hatte und die niemand außer ihm entschlüsseln konnte. Beständig hallte eine Stimme in seinem Ohr, der König wird keine andere Ehe für seinen Sohn erlauben, wer auch immer anderes vorschlägt, und diese Ehe wird das Elend auslösen, das Frankreich bis auf die Knochen ausmergeln wird. Krieg und Tod, Bruder gegen Bruder, die Guise zertreten ihre Feinde und werden ihrerseits zertreten.
»Sag mir, Anael«, sprach Nostradamus zu dem Engel der Geschichte, »was ist, wenn die Schrecknisse der Zukunft ausgelöst werden vom Schicksal einer hübschen kleinen Unschuldigen? Bei diesem ungeheuerlichen Gedanken dreht sich mir der Magen um. Die einzig moralische Entscheidung ist Schweigen. Aber was würde geschehen, wenn ich mein Wissen preisgäbe?« Es war Nacht, doch die Fensterläden im Kämmerchen mit den schrägen Wänden standen offen. Sechs Sterne, nein, acht zwinkerten ihm jenseits des dunklen Dachschattens zu. Anael saß auf der Fensterbank und war mit seinem schummrig-blauen Leib und den glitzernden Sprenkeln nur etwas
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